Das Mondkind (German Edition)

Meter messen, siebenein halb Zentimeter hohe Wandleuchter, Lampen mit Schirmen aus mundgeblasenem Glas, die nicht mehr als fünf Zentimeter hoch sind, und Buntglasrepliken, die ganze fünfzehn Zentimeter messen.
    Im ersten Moment sieht alles in dem gut zehn Meter langen Flur – der in dem richtigen Haus von einem Ende bis zum anderen rund vierzig Meter misst – genauso aus wie immer und wie es aussehen sollte. Dann schreckt Crispin zurück, weil sich etwas bewegt. Durch diesen Flur kommt etwas auf ihn zu, dicht über dem Boden und rasch.
    Es sind zwei.
    Zwei weiße Katzen.
    Jede Katze könnte im richtigen Leben dreißig Zentimeter lang sein, aber hier messen sie siebeneinhalb Zentimeter. Sie sind zu klein und geschmeidig, um rein mechanische Geschöpfe zu sein. Ihre Pfoten bewegen sich hastig, als sie ihm entgegenspringen, doch dann überqueren sie abrupt den Flur und verschwinden durch die offenen Türen des Salons.
    Elektrisiert und so wach, wie er es schon seit Wochen nicht mehr gewesen ist, läuft Crispin eilig zur Westfassade des Miniaturhauses, findet den Salon und entdeckt auf der Fensterbank zwei schneeweiße Katzen, nicht größer als Mäuse, die ihn durch die winzigen Scheiben der Sprossenfenster anschauen.

13
    3. Dezember, der letzte Abend von Crispins dreizehntem Lebensjahr. Sein vierzehntes liegt vor ihm, falls er die Nacht überlebt …
    Der Junge, das Mädchen und der Hund nehmen den Aufzug vom dritten Stock in den ersten, wo, neben anderen Versuchungen, die Spielwarenabteilung lockt.
    Da sie bei den Preisen von Discountern wie Toys’R’Us nicht mithalten können, setzt man bei Broderick’s auf exotische und kostspielige Artikel, die anderswo nicht zu finden sind. In der Vorweihnachtszeit macht das Kaufhaus aber auch Umsatz mit den gängigeren Artikeln, weil dann die Spielwarenabteilung in ein Wunderland voller grandios geschmückter Bäume, beweglicher Figuren und verschneiter Szenen verwandelt ist, in dem zehntausend funkelnde Lichter brennen. In dieser Zeit wird der Abteilung dreimal so viel Platz zugestanden wie während des übrigen Jahres, und für viele Leute in der Stadt ist es Tradition, der Spiel warenabteilung von Broderick’s vor Weihnachten einen Besuch abzustatten und ihre Dekoration zu bewundern, auch wenn ihre Kinder längst von zu Hause ausgezogen sind, oder selbst dann, wenn sie gar keine Enkel haben, die sie verwöhnen könnten.
    Sogar im bloßen Schein einer Taschenlampe ist diese Spielzeugwelt beeindruckend, auch wenn das springende Rentier stillsteht und die herumtollenden Elfen in dem künstlichen Schnee erstarrt scheinen. Dieses Jahr ist das Wunderwerk in der Mitte der Abteilung, das Amity ihm zeigen will, ein maßstabsgetreues Modell des Kaufhauses.
    Broderick’s hat kein so ehrgeiziges Projekt in Auftrag gegeben wie eine Wiedergabe im Maßstab 1:4. Stattdessen beträgt der Maßstab 1:50, also zwei Zentimeter für jeden Meter des echten Gebäudes. Dennoch erweist sich das Modell als groß genug, um sowohl Kinder als auch Erwachsene zu begeistern. Crispin und Amity sind aufgrund ihrer leidvollen Vergangenheit beide quasi schon erwachsen, doch auch sie sind bezaubert. Sogar Harley stemmt seine Vorderpfoten auf den Sockel und hechelt vor Bewunderung. Die beeindruckende Detailbesessenheit der Miniatur von Theron Hall wird hier zwar nicht erreicht, doch das Modell ist so gut gemacht, dass es ein eigenständiges kleines Wunder darstellt.
    Aber die Dekoration beschränkt sich nicht auf diese Reproduktion von Broderick’s mit einer Seitenlänge von etwa zweieinhalb Metern. Anstelle einer Schneekugel steht sie in einem Behälter aus dickem Plexiglas, der mit Wasser und noch etwas gefüllt ist – Amity weiß nicht, um was es sich handelt. Sie weiß jedoch, wo der Bedienungsschalter zu finden ist, und als das Licht in dem Behälter angeht, füllt er sich sogleich mit fallendem Schnee, der langsam durch die Flüssigkeit rieselt und dann wieder nach oben gepumpt wird.
    Während draußen in der Nacht Schnee auf das echte Broderick’s rieselt, fällt also auch auf das Modell Schnee, Realität und Fantasie sind eins. Natürlich sind die beiden immer eins, aber selten so offensichtlich wie hier und jetzt. Das Werk der Modellbauer und die Schöpfung, zu der ja auch die Modellbauer selbst zählen, sind so miteinander synchronisiert, dass damit unübersehbar und nachdrücklich suggeriert wird, was für ein potenziell harmonischer Ort die Welt ist, vorausgesetzt, man wünscht sich diese