Das Mondkind (German Edition)
Merripens Gesicht, das von Hass verzerrt ist, als der Koch sagt: » Ferkel. «
Nachdem er in dem Miniaturenzimmer gänzlich zusammengesackt ist und ausgerechnet die Erkenntnis seiner Schwäche in den letzten Tagen ihn noch mehr schwächt, seine Leichtgläubigkeit ihn beschämt und sein Schuldbewusstsein ihn schier in Stücke reißt, weil er es unterlassen hat, seiner Schwester zu helfen, weint er eine Zeitlang … bis sein Weinen erbärmlich zu klingen beginnt. Kurz darauf klingt es noch schlimmer als erbärmlich – wie die jämmerlichen Klagelaute eines hilflosen verwundeten Tieres.
Der wimmernde Junge, den er hört, ist ein Junge, der er nicht sein will, ein Junge, der nicht sein wahres Ich ist, nicht das Beste, was Crispin zu bieten hat. Von Neuem beschämt, wenn auch aus anderen Gründen, zieht er sich auf die Hände und die Knie und dann auf seine Füße, wankend, aber trittsicher.
Er weiß schon, seit er an diesem Morgen aufgewacht ist, dass sie den 29. September haben, das Fest der Erzengel, aber diese neu gewonnene Klarheit seines Bewusstsein lässt ihn plötzlich erkennen, was dieses Datum zu bedeuten hat.
»Harley«, sagt er, und als er den Namen seines Bruders ausspricht, scheinen seine Tränen von einem Moment auf den nächsten zu trocknen.
Um 15.37 Uhr ist der Nachmittag bereits im Schwinden begriffen, aber er hat noch Zeit. Sie sind jetzt nur noch zu zweit, zwei kleine Bastarde, die manche Leute als Ferkel betrachten. Wenn Crispin etwas wert ist, wenn er das Potenzial besitzt, der Junge zu sein, der er sein möchte, dann wird er ihnen ihren Festschmaus vorenthalten, ihre Festlichkeiten stören und Theron Hall gemeinsam mit seinem Bruder unversehrt verlassen.
Er muss um jeden Preis ahnungslos wirken, weder misstrauisch noch furchtsam. Er zögert und bleibt in dem Miniaturenzimmer, bis seine Knie nicht mehr weich sind und seine Hände nicht mehr zittern.
Crispin steigt in den ersten Stock hinunter und begibt sich geradewegs in Harleys Zimmer. Die Feststellung, dass sein Bruder nicht da ist, bestürzt ihn, aber sie überrascht ihn nicht.
Die Spielsachen des Jungen sind nicht verschwunden. Seine Bilderbücher sind hier. Sein Kleiderschrank ist nicht ausgeräumt. Es bleibt noch Zeit, um ihn zu retten.
In Harleys Badezimmer flackern vielleicht fünf Dutzend Kerzen in Glasgefäßen. In den Spiegeln, die einander gegenüberhängen, brennen unzählige Flammen in Reihen, die sich bis in die Unendlichkeit fortsetzen.
Zwei silberne Schalen sind auf dem Fußboden zurückgeblieben.
Eine dünne Schicht Wasser funkelt auf dem Boden der Wanne. Von Rosen keine Spur. Stattdessen kleben an der Emailleschicht verschiedene klatschnasse Blätter, bei denen es sich zum Teil um Basilikum handeln könnte, denn danach riecht es.
Am 26. Juli wurde das Fest in den späten Abendstunden veranstaltet, nach 21.30 Uhr. Höchstwahrscheinlich werden sie sich diesmal an denselben Zeitablauf halten. Da bis zu dem Ereignis noch etwa sechs Stunden Zeit bleiben, ist Harley noch am Leben, wird aber irgendwo festgehalten.
Vom Zimmer seines Bruders aus wagt es Crispin, die nördliche Treppe in den Keller zu nehmen. Als er unten ankommt, ist die Tür nicht abgeschlossen. Er öffnet sie, tritt in die Dunkelheit und schaltet die Flurlichter an.
Einen langen Moment steht er nur da und lauscht einer Stille, die tiefer ist als jede, die er je zuvor gehört hat, als sei der Keller nicht ein Teil des Hauses, sondern stattdessen Teil eines Raumschiffs, das in den Tiefen des Alls schwebt, weit jenseits des Lichtes irgendeiner Sonne, in einem Vakuum, durch das kein Laut zu ihm vordringen kann.
Furcht schleicht sich in die Kammern seines Gemüts, doch er benutzt seine Verpflichtung gegenüber der verlorenen Schwester und dem Bruder, der noch am Leben ist, wie eine Leine, an der er die Furcht bei Fuß gehen lässt.
Der Flur trennt die vordere Seite des Gebäudes von der hinteren. Nach vorn, also gen Westen, gibt es zwei Türen. Hinter der ersten befindet sich ein dreißig Meter langer Swimmingpool und in dem zweiten Raum ist die Heiz- und Kühlwasseranlage untergebracht.
Harley hält sich in keinem der beiden Räume auf.
An der Ostseite des Flurs gibt es zwei Türen. Hinter einer ist der Abstellraum und auch dort befindet sich Harley nicht.
Nach den Dimensionen des Abstellraums zu urteilen muss der Raum hinter der nächsten – und letzten – Tür etwa vierundzwanzig mal zehn Meter messen. In diesen riesigen Kellerraum gelangt man nicht
Weitere Kostenlose Bücher