Das Mondkind (German Edition)
nichts.«
»Und keine der anderen Karten war schmutzig oder abgegriffen oder verschimmelt.«
»Keine«, bestätigt er. »Ich wollte diese vier Karten einfach nicht anrühren, als laste ein Fluch auf ihnen oder so. Aber Harley hat immer wieder daran geschnuppert und mich angesehen. Also habe ich beschlossen, wenn sie ihm keine Angst machen, sollten sie mir auch keine Angst einjagen.«
Harley seufzt und erschauert; er schläft noch, aber offenbar träumt er von etwas, das ihm Spaß macht.
»Ich lege die verschimmelten Sechsen oben auf den Packen und greife nach der Schachtel, um die Spielkarten wieder zu verstauen. Aber Harley schlägt mit einer Pfote fest auf die Schachtel, ehe ich sie in die Hand nehmen kann.«
»Der gute alte Harley.«
»Er starrt mich an, als wollte er sagen: Was tust du da, Junge? Du bist noch nicht fertig. «
»Die Haare in deinem Nacken haben sich aufgestellt.«
»Ja, allerdings«, stimmt Crispin ihr zu, »aber im Guten. Ich weiß nicht, was der Hund von mir erwartet, also mische ich die Karten mehrfach und teile wieder vier Karten aus.«
»Die vier Sechsen, aber nicht die verschimmelten.«
»Du könntest die Geschichte auch gleich selbst erzählen, wenn du sie so genau kennst.«
»Ich würde sie liebend gern erzählen, wenn es jemanden gäbe, dem ich sie anvertrauen könnte. Aber ich höre es gern, wenn du sie erzählst.«
»Mit deiner redaktionellen Unterstützung.«
»Kostenlos«, sagt sie und grinst.
Ihr Lächeln erinnert ihn an Mirabell, und er liebt sie wie eine Schwester.
»Ich mische, ich gebe und drehe auf der Stelle wieder vier Sechsen um, aber diesmal sind sie nicht verschimmelt. Sie sind so glatt und sauber wie alle anderen Karten. Ich sehe das Kartenspiel nach den beschädigten Sechsen durch, aber sie sind weg.«
»Harley hat immer noch eine Pfote auf der Schachtel liegen.«
»Richtig. Und vielleicht eine Stunde lang mische ich immer wieder die Karten und gebe sie aus und versuche, noch einmal die vier verschimmelten Sechsen oder sogar vier saubere neue Sechsen aufzudecken, alle in einer Reihe.«
»Aber es passiert nicht.«
»Nein«, stimmt Crispin ihr zu. »Und dann höre ich mich etwas sagen, von dem ich nie gedacht hätte, dass es mir über die Lippen käme. Also, es sprudelt einfach so aus mir heraus, als spräche jemand anders durch mich. ›Harley‹, sage ich, ›wenn diese vier Hässlichen noch einmal direkt hintereinander auftauchen, falls das jemals wieder passiert, dann wird es an der Zeit sein, dass wir nach Theron Hall zurückkehren.‹«
»Daraufhin nimmt er seine Pfote von der Schachtel.«
»Genau.«
»Und du packst die Karten weg.«
»Richtig.«
Amity lehnt sich in der Nische zurück, verschränkt ihre Arme vor ihrem Brustkorb und presst sie an sich. »Jetzt kommt die Stelle, die mir am besten gefällt.«
Harley schnaubt, wacht auf, gähnt und setzt sich auf der Bank neben dem Phantom von Broderick’s auf.
16
Der neunjährige Crispin am Abend der Erzengel …
Ganz gleich, ob es sich bei dem Polizisten vor den beiden Türen um ein und denselben Mann, um Zwillinge oder um etwas ganz anderes handelt – Crispin wird es nicht gelingen, Hilfe von draußen zu holen.
Theron Hall scheint verlassen, und das bedeutet, dass sie alle im Keller sind. Und sein Bruder ist mit ihnen dort unten. Der Festschmaus, die Feierlichkeiten, was auch immer es außer einem gewöhnlichen Mord noch sein mag, es wird demnächst beginnen oder hat bereits begonnen.
Vor seinem geistigen Auge erscheint eines der Gemälde aus dem Buch, das den Titel Die Heiligen im Kirchenjahr trägt. Es sind die drei Erzengel. Gabriel trägt eine Lilie und Raphael begleitet einen jungen Mann namens Tobias auf einer Reise. Michael ist eine eindrucksvollere Erscheinung als die beiden anderen; er ist mit einer Rüstung bekleidet und hält ein Schwert in der Hand.
Aus einem Messerblock neben dem Herd sucht Crispin sich das mit der längsten und schärfsten Klinge aus.
Von der Küche aus gelangt man in zwei kleine Büros, eines gehört der Hausdame, das andere wird von den beiden Butlern benutzt, von Minos, der jetzt in Frankreich ist, und von Ned. Die Butler haben ein Metallschränkchen an der Wand, in dem eine Anzahl von Ersatzschlüsseln hängt, alle beschriftet.
Crispin ist nicht sicher, wann er von dieser Schlüsselsammlung erfahren hat, falls ihm überhaupt jemand davon erzählt hat, aber jetzt nimmt er einen Schlüssel mit der Aufschrift Keller von einem der Haken. Nach kurzem
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