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Das Mondkind (German Edition)

Das Mondkind (German Edition)

Titel: Das Mondkind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean Koontz
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weniger schrecklich als alles andere, was sie ihm antun könnten. Das flackernde Kerzenlicht, der kräftige Weihrauchgeruch, der im einen Moment ein exquisites Parfum und im nächsten Moment eine erstickende Dunstwolke ist, der Sprechgesang, die gelenkigen Bewegungen der sich windenden Leiber, und jetzt ertönt von irgendwo blecherne Musik: All das bricht nicht nur über Crispin herein, als eine Flut von Eindrücken, sondern stattdessen scheint es ihn einzuhüllen, scheint ihn so zu vereinnahmen, wie sein Kindermädchen ihn manchmal in die Arme genommen hat, umgibt ihn und hebt ihn hoch, heißt ihn willkommen . Wenn Nanny Sayos Blick jetzt auf ihn fällt, wenn sie ihm in die Augen sieht, dann kann es sein – das weiß er tief in seinem Herzen –, dass er erst in vielen Jahren erwachen und nicht sicher sein wird, wie er dahin gekommen ist, wo er zu dem Zeitpunkt sein wird, nicht sicher, wer er ist, und nur eines wird für ihn mit Sicherheit feststehen – dass jemand ihn besitzt, dass sie ihn versklavt hat.
    Diese Stimulation seiner Sinne hat ihn derart überwältigt, dass er erst jetzt seinen Blick von der Menge löst und ihn zu dem hebt, was sich erhöht hinter der Menge befindet. Auf einem langen weißen Marmortisch liegt Harley, in einem weißen Gewand wie ein Chorknabe und mit einem Kranz auf dem Kopf. Er ist an Stahlringe in dem bleichen Stein gekettet. Seine Kiefer sind schmerzhaft gedehnt, um einen grünen Apfel in seinem Mund aufzunehmen. Der Apfel wird von einem Riemen um seinen Kopf herum festgehalten. Crispins Blick wandert noch höher und er sieht Jardena und Mr. Mordred, beide in schwarzen Morgenmän teln. Masken sind von ihren Gesichtern auf ihre Köpfe geschoben, doch jetzt ziehen sie diese wieder vor ihre Gesichter. Es sind derart lebensechte Masken, dass Mr. Mordred plötzlich den Kopf einer anzüglich grinsenden Ziege zu haben scheint, Jardena den eines Schweins.
    Zu einem anderen Zeitpunkt hätte er diese Masken vielleicht als komisch empfunden, als eine Verkleidung für Halloween, als alberne Verstellung, aber das hier ist etwas anderes, weil die Gesichter unter den Masken ihre Masken sind , und die aufwändig gearbeiteten Masken der Ziege und des Schweins ihre wahren Gesichter. Wenn Menschen so anders sein können, als sie zu sein scheinen, dann ist vielleicht nichts auf Erden das – oder nur das –, was es zu sein scheint.
    Hinter und über Jardena und Mr. Mordred hängt an der Rückwand des Raumes ein Gegenstand, aus dem Crispin nicht gleich schlau wird. Einen Moment später erkennt er, dass es sich um ein verkehrt herum aufgehängtes Kruzifix handelt.
    Über den Gesang und die Musik hört Crispin ein intimeres Geräusch, ein Surren. Ein bis zwei Meter über seinem Kopf windet sich ein Schwarm von fetten Pferdebremsen wie eine Schlange über den Zelebranten. Das müssen ihre Male sein, Muttermale, Tattoos, was auch immer, die einst nur Umrisse auf ihrer Haut waren, aber jetzt für die Dauer des Festes lebendig werden und ausschwärmen. Er fürchtet, wenn eine der Bremsen beschließt, sich auf ihm niederzulassen, wird er verloren sein.
    Als der Sprechgesang der aufrecht stehenden Mitglieder der Gemeinde zu einem schrilleren Klang anschwillt, blickt Crispin wieder auf den angeketteten Harley. Der erhobene Dolch in Jardenas Hand hat eine geflammte Klinge, über die wie eine Flüssigkeit Kerzenschein rinnt.
    Crispin ist nichts weiter als ein Junge, ein kleiner Junge mit Charakterschwächen, zu denen er seit seinem Einzug in Theron Hall ermutigt wurde. Er ist ein Junge, dessen Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist, dessen Herz noch unfertig ist. Er ist ein Junge ohne die Substanz, ein Krieger zu sein, und er kommt zu spät. Der Dolch sticht jäh zu und Crispin flieht, rennt vor den Pferdebremsen und vor Nanny Sayo weg, bevor sie die Bremsen auf ihn hetzen kann, rennt vor jeglicher Verantwortung für seinen Bruder weg, aber er rennt – wie er erst Jahre später begreifen wird – auch vor den Lockrufen weg, vor dem, was hätte sein können, wenn seine Schwächen tiefer in ihm verwurzelt oder ausgeprägter gewesen wären.
    Er stellt fest, dass er keuchend und mit abgehacktem Atem in der Eingangshalle steht, ohne das Messer, aber mit dem Buch, Die Heiligen im Kirchenjahr , das ein anderes Porträt des heiligen Michael auf dem Einband zeigt, diesmal nicht in Gesellschaft von Gabriel und Raphael wie auf der Illustration im Inneren des Buches, sondern allein und grimmig.
    Crispin zieht die Tür

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