Das Mondkind (German Edition)
Nachdenken nimmt er auch einen Schlüssel an sich, auf dessen Anhänger Haus steht. Die Schlüssel und das Messer, die Weisheit und das Schwert.
Auf dem Schreibtisch liegt ein Rechnungsbuch, in das Ned die Ausgaben aus der Handkasse einträgt. Neben dem Buch liegt ein Umschlag, der einundsechzig Dollar Bargeld enthält. Crispin nimmt nur elf Dollar. Er stopft die zwei Fünfer und den Einer in eine Tasche seiner Jeans. Das ist kein Diebstahl, das ist zwingende Notwendigkeit. Wenn es Diebstahl wäre, würde er die gesamten einundsechzig Dollar an sich nehmen. Und selbst wenn es in gewisser Hinsicht Diebstahl wäre, dann ist es doch auch noch etwas viel Schlimmeres als Diebstahl, aber das wird er erst mit der Zeit verstehen.
Er rast die südliche Treppe zur Kellertür hinunter und wirft einen Blick hinter sich, doch diesmal schleicht sich der Koch Merripen nicht an ihn heran. Der Schlüssel dreht sich im Schloss, der Riegel gleitet zurück, und die Tür zum untersten Flur des Hauses öffnet sich.
Als er eintritt, hört er den Sprechgesang, den er auf der anderen Seite der Tür nicht hören konnte, weil sein Herz ein rhythmisches Donnern in seinen Ohren angestimmt hat.
Die große Stahlplatte steht offen und der Schein zahlreicher Kerzen tanzt durch die offene Tür in den ansonsten schummerigen Flur hinaus. Er riecht auch Weihrauch, ein widerlich süßer Duft, der vollkommen anders ist und ihn doch irgendwie an das Aroma des ekelhaften Zeugs erinnert, das Merripen aus der aufgeschraubten Thermosflasche in Crispins offenen Mund gegossen hat.
Die Liebe zu seinem Bruder treibt ihn an, doch gleichzeitig zögert er und bangt nicht nur um sein eigenes Leben, sondern fürchtet auch noch einen anderen Verlust, der in dem Moment namenlos und dennoch eine schreckliche Vorstellung ist. Er lag noch nie so sehr im Widerstreit mit sich selbst. Er ist hin und her gerissen, denn einerseits ist er entschlossen, Harley zu retten, ganz gleich, wie viele Feinde er auf dem Weg zu ihm aufschlitzen muss … aber gleichzeitig kämpft er gegen das Verlangen an, das Messer fallen zu lassen, auf die Knie zu sinken und alles, was sie von ihm wollen, jetzt zu tun, jetzt gleich und nicht erst in fünf Tagen, am Fest des heiligen Franz von Assisi.
Als er die offene Tür erreicht, findet er einen Raum vor, der in erster Linie von Kerzen erhellt wird. Sie stehen auf gestaffelten Tischen von unterschiedlicher Höhe an drei Seiten des Raumes, mindestens tausend Kerzen. Die gelborangen Flammen scheinen im Rhythmus des Sprechgesangs zu flackern, der in einer fremden Sprache ertönt, vielleicht Latein.
Crispin hält das Messer vor sich gestreckt, als er die Schwelle überschreitet. Dahinter führt der Betonboden anscheinend zu zahlreichen Matratzen, die nebeneinanderliegen und mit schwarzen Laken bezogen sind. Er bleibt stehen, als ihm klar wird, dass sie alle hier sind, und noch einige mehr – sämtliche Dienstboten und vielleicht ein Dutzend Fremde, Clarette und Giles, Nanny Sayo –, und dass sie alle nackt sind.
Crispin hat noch nie jemand anderen als sich selbst und seinen Bruder nackt gesehen. Der Anblick dieser nackten Körper ist ihm peinlich, und es beschämt ihn, dass er sie so unverhohlen anstarrt, aber es lässt ihm auch einen keineswegs unangenehmen Schauer über den Rücken laufen.
Vielleicht die Hälfte der Versammelten steht da und singt, während die anderen sich entweder auf allen vieren befinden oder in seltsamen Haltungen daliegen, sich gemeinschaftlich in ungestümen Rhythmen bewegen und winden. Er braucht einen Moment, um zu begreifen, dass sie tun, was Mann und Frau miteinander tun und wovon er sich nur eine äußerst vage Vorstellung macht, doch bei den Paaren handelt es sich nicht immer um einen Mann und eine Frau und es sind auch nicht immer nur Paare.
Keiner scheint ihn zu bemerken. Noch nicht. Er ist ein kleiner Junge und steht immer noch außerhalb des gebündelten Kerzenlichtes und weitgehend im Schatten, und nur die Klinge des Messers schimmert, als sei sie aus Gold.
Er sieht Nanny Sayo etwas Widerliches tun. Es ist abstoßend und ekelhaft, aber zugleich reizt es ihn auch, und er geht bereits zwei Schritte auf sie zu, ehe er sich dessen bewusst wird und stehen bleibt. Neuerliches Entsetzen, anders als alles, das er jemals zuvor empfunden hat, durchzuckt ihn, weil ihm klar wird, was ihm zustoßen könnte, wenn sie ihn sieht und diese Augen auf ihn richtet, diese schönen Augen. Selbst wenn sie ihn töten, wäre das
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