Das Mondkind (German Edition)
auf und sieht sich dem Polizisten gegenüber, der überall gleichzeitig sein kann. »Du unbrauch barer kleiner Feigling«, sagt der Bulle und holt mit dem Schlagstock aus, der zerbricht, als er auf das Bild des heiligen Michael auf dem Bucheinband trifft.
Der Junge weicht aus, als der Polizist ihn packen will, und rast vom Haus fort. Er rennt über den Bürgersteig, springt vom Randstein und stürzt sich in den Straßenverkehr.
Auf der gegenüberliegenden Seite der Shadow Street steht das Pendleton, das sogar noch größer ist als Theron Hall, vormals das Herrenhaus einer einzigen Familie, heute in Eigentumswohnungen unterteilt. Er kennt dort niemanden. Das Haus erweckt keinen einladenden Eindruck, sondern wirkt sogar so, als erwarte ihn dort eine andere Form von Schrecken, um ihn in eine Falle zu locken.
Bremsen kreischen und Hupen schmettern wie prähistorische Tiere, Fahrzeuge scheren wenige Zentimeter vor ihm aus und umfahren ihn mit einem Schlenker, aber Crispin ist inzwischen ziemlich egal, was ihm zustößt. Mitten auf der Prachtstraße rennt er den Shadow Hill hinunter, mit Rücklichtern auf einer Seite und Frontscheinwerfern auf der anderen, und das Lichtermeer der Innenstadt scheint wie die einlaufende Flut anzusteigen, um ihm entgegenzukommen.
Eine Straße geht in die andere über und diese wieder in eine andere und in die nächste. Schmale Gassen locken, und in einer von ihnen packt ihn ein Mann, der nach altem Schweiß und Whiskey riecht – »Hoppla, Huck Finn, hast du was für mich?« –, aber Crispin reißt sich los.
Er rennt und rennt, bis sein Brustkorb schmerzt und seine Kehle vom Atmen durch den Mund ganz rau ist. Als er endlich anhält, steht er auf dem Bürgersteig vor dem Eingang zum Friedhof zur heiligen Maria Salome.
Obwohl er sich nicht daran erinnern kann, es fallen gelassen zu haben, ist das Buch mit dem Erzengel Michael auf dem Einband verschwunden. Er hat auch keine Erinnerung daran, die zerknitterten Geldscheine aus seiner Tasche ge zogen zu haben, doch er hält die beiden Fünfer und den Einer, die er aus dem Umschlag auf dem Schreibtisch des Butlers genommen hat, mit einer Hand umklammert.
In der letzten Stunde sind so viele Dinge von einer derart verheerenden Tragweite passiert, dass Crispin gar nicht dazu fähig sein sollte, auch nur einen einzigen komplexen Gedanken aus seinem mentalen und emotionalen Knäuel zu lösen. Aber als er die Scheine in seiner Hand betrachtet, wird ihm klar, dass er in dem Moment, als er das Geld an sich nahm, schon wusste, dass er nicht sterben würde, um seinen Bruder zu retten, und dass er am Ende fliehen würde. Das Geld war für seine Flucht bestimmt, armseliges Diebesgut, das ihm in den ersten ein oder zwei Tagen auf der Straße über die Runden helfen sollte. Er hätte die ganzen einundsechzig Dollar nehmen können, aber dann hätte er sofort gewusst, dass er nicht die Absicht hatte, Heldentaten zu begehen. Er hatte sich stolz zugute gehalten, dass er nur elf Dollar nahm und kein Dieb war, um sich von der Wahrheit abzulenken, dass er ein Feigling war. Er war nicht in den Keller gegangen, um seinen kleinen Bruder zu finden und ihn zu retten, nicht wirklich, sondern weil das Geheimnis des Raumes hinter der Stahltür verlockend war, so verlockend wie der Luxus von Theron Hall, eine ebenso große Versuchung wie der Müßiggang, so verführerisch wie Nanny Sayo.
Er fängt an zu weinen und schluchzt dann unbeherrscht. Er weint um Mirabell und um Harley, aber auch um sich selbst, ebenso sehr um das, was verloren ist, wie um die, die verloren sind. Er versucht das Geld wegzuwerfen, aber seine Hand gehorcht ihm nicht und stopft die Scheine wieder in seine Hosentasche. Er kann nicht vor dem Geld davonlaufen, weil es jetzt ein Teil von ihm ist, und er kann nicht vor sich selbst davonlaufen, das vermag niemand, aber er versucht es.
Er rast auf den Friedhof und schlängelt sich zwischen den Grabsteinen durch, die im Mondlicht aus Eis gemeißelt zu sein scheinen. Er wünscht, es wäre so einfach wie in einem gruseligen Comic, er wünscht, jemand, der schon lange tot und begraben ist, käme aus dem Erdboden herausgeschossen und würde ihn mit ein paar groben Worten verurteilen, ihn packen, ihn hinunterziehen und sein Ende herbeiführen. Aber die Toten wollen nichts mit ihm zu tun haben, sie werden nicht für ihn auferstehen, und sie werden auch nicht mit ihm sprechen.
Er läuft zwischen den sorgsam angeordneten Urnenwänden durch, in denen nicht
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