Das Monster von Moskau
dir sagen, dass dort nur Ukrainer begraben liegen. In diesem Ort leben sie schon seit Jahrhunderten.« Valentin schaute Karina an.
»Sie haben alles mitgebracht. Ihre Kultur, ihre Art zu leben und natürlich auch ihre Geschichten, Sagen und Legenden. Und manchmal auch sehr, sehr grausame Wahrheiten, wie das Monster von Moskau.«
»Ich habe verstanden«, erklärte Karina. Bis jetzt war es Theorie. Aber du hast auch an die Praxis gedacht – oder?«
»Wären wir sonst hier?«
»Also werden wir zum Friedhof gehen und uns dort umschauen.«
»Nicht nur da. Auch die Kirche ist wichtig.«
»Werden die Toten nicht erst am Kardonnerstag erscheinen?«
»Das stimmt nicht so ganz. Sie versuchen es die ganze Karwoche über. Die Legende sagt, dass sie es am Kardonnerstag schaffen, in die Kirche hineinzugelangen. Bis zu diesem Tag ist sie ihnen versperrt.«
»Ja, das habe ich begriffen. Dann lass uns langsam gehen. Kann sein, dass wir etwas sehen.«
Valentin war zufrieden. Er fragte nur noch: »Hast du eine Taschenlampe bei dir?«
»Darauf kannst du dich verlassen.«
»Dann komm.« Er öffnete die Beifahrertür des Volvo noch nicht und sagte nur: »Ich habe gebetet, dass es diesmal keine Toten gibt. Doch ich kann daran nicht glauben. Wenn das Monster kommt, wird es schlimm. Das wissen auch die Menschen im Ort. Ich kenne welche, die sich nicht mal trauen, ihre Häuser zu verlassen.«
Karina Grischin sagte nichts mehr. Sie stellte auch keine Frage. Allerdings war sie auf die Zukunft sehr gespannt, als sie das Auto verließ und hineintrat in die abendliche Stille...
Es war nicht richtig dunkel geworden es war auch nicht mehr hell. Ein graues Zwielicht hatte sich ausgebreitet, das bald von der Dunkelheit vertrieben werden wurde.
Karina Grischin behauptete manchen Menschen gegenüber, Moskau zu kennen. Das galt allerdings nur für die Innenstadt. Die meisten Außenbezirke waren für sie ebenso fremd wie Sibirien. Sie hatte sich dort noch nie aufgehalten, und wieder einmal wunderte sie sich darüber, wie groß die Hauptstadt Russlands letztendlich war.
Dem Kalender nach war Frühling. Aber der ließ in Moskau oft auf sich warten. Der Winter – Väterchen Frost – wollte nicht aufgeben, hielt das Land noch umfangen, auch wenn sich tagsüber bereits die Frühlingssonne zeigte. Die Nächte waren noch kalt, und so schmolz die Eisschicht auf den Gewässern kaum weg oder bildete sich in den Nächten neu.
Karina und Valentin hatten nicht im Dorf selbst geparkt, sondern am Rande. Der Wagen stand auf einem schmalen Feldweg, dessen Oberfläche ebenfalls hart gefroren war und sogar Wellen geworfen hatte, die wie starre Kämme in die Höhe standen.
Es war der Weg, der zum Friedhof führte. Er lag in der Nähe eines Teichs, der im tiefen Winter immer eine dicke Eisschicht zeigte. Umstanden war das kleine Gewässer von sehr alten Birken.
Diese Bäume waren überhaupt in der Umgebung präsent. Sie prägten sie, doch auch auf den Außenseiten ihrer hellen Stämme schimmerte die weiße Schicht. So waren die meisten von ihnen mit einem Mantel aus Eis umgeben, fast wie manch Wodkaflaschen.
Valentin ging vor. Er schritt durch die Stille und die Einsamkeit. Um diese Zeit wagte sich niemand mehr zum Friedhof hin. Die Menschen hier wussten genau, was sie tun durften und was nicht. Sie hielten sich an die alten Regeln, die stärker waren als die Moderne mit Computer, Handy und Internet.
Valentin ging mit ruhigen Schritten. Karina schaute dabei auf seinen Rücken und dachte über ihn nach.
Als Kind hatte sie ihn kennen gelernt und auch Vertrauen zu ihm gefunden. Aber sie hatte nie richtig erfahren, welch einem Beruf Valentin nachging. Er war sehr belesen. Er kannte sich in der Medizin aus. Seine alten Heilmethoden hatte er von seinen Eltern und Großeltern gelernt, aber er wusste auch in der Philosophie, Literatur und Politik Bescheid. So hatte er den Untergang des Kommunismus bereits Jahre zuvor vorausgesagt. Er sah Zusammenhänge, bevor andere Menschen diese erkannten oder erkennen wollten.
Ein weiser Mensch, der bereits auf die achtzig zuging, aber noch immer einen klaren Verstand hatte. Und wenn sich Karina nicht grundlegend irrte, dann stammte auch er aus der Ukraine. Sie erinnerte sich daran, dass er ihr mal davon erzählt hatte. Das allerdings lag wieder Jahre zurück. Da war sie ein Teenager gewesen.
Sie hatte mit Valentin nie offen über sich gesprochen, trotzdem wusste er, welch einem Beruf sie nachging. Dass sie für den
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