Das Mordkreuz
schmerzhaft gewesen sein», antwortete Kilian. «Könnten das Fluchtspuren sein?»
«Entweder das oder er war in der Nacht unterwegs und konnte nicht sehen, wohin er ging.»
«Im Pyjama?»
«Wer weiß. Wollen wir mal sehen, wie lange er schon tot ist.»
Die Totenflecke hatten sich an Unterarmen und Beinen noch nicht verfestigt, sie ließen sich wegdrücken. Als Nächstes setzte sie einen kleinen Schnitt im Oberbauch und führte das Thermometer ein. Es pendelte sich um die achtundzwanzig Grad ein. «Bei den vorherrschenden Temperaturen würde ich sagen, er ist nicht länger als acht bis neun Stunden tot.»
«Das heißt, er starb zwischen drei und vier Uhr letzte Nacht. Was macht man um diese Uhrzeit in einem dunklen Waldstück?»
«Spazierengehen wohl kaum. Zumal ohne Schuhe. Die Fußsohlen sind völlig aufgerissen.»
«Bleibt also Flucht. Nur vor wem?»
«Vielleicht kam ihn einer seiner Verurteilten besuchen.»
«Das wäre eine Möglichkeit und eine ganze Menge Verdächtiger. Und passenderweise haben sie einen Strick gleich mitgebracht.»
Kilian nahm ihn zur Hand und untersuchte ihn auf Spuren. Zwischen den einzelnen Strängen hatte sich Rinde abgerieben. Er nahm zwei Koffer der Spurensicherer, stellte sieaufeinander und stieg hoch. Am Ast war ein deutlicher Abrieb zu erkennen, der bis ins Holz hineinreichte.
«Sich am eigenen Schopf aus dem Schlamm ziehen hat schon bei Münchhausen nicht geklappt», sagte er und stieg herunter.
«Was meinst du?»
«Der Abrieb, den der Strick am Ast hinterlassen hat, ist sehr stark und tief. Würde mich wundern, wenn das durch eine Schaukelbewegung zustande gekommen ist. Es sieht eher danach aus, als wäre Mangel am Strick hochgezogen worden. Er selbst kann das ja wohl kaum gemacht haben. Schließlich hätte er das andere Ende des Stricks am Baum auch noch festmachen müssen.» Er schaute sich am Boden um. «Was aber fehlt, sind Kampfspuren.»
«Kein Wunder bei dem ausgetrockneten Boden. Das ist alles steinhart. Allerdings …»
Sie deutete auf eine blutunterlaufene Schwellung im Halsbereich zwischen Strick und Schulter. «Das sieht mir weniger nach einer Sturzverletzung als nach einem Schlag aus. Auf jeden Fall trat sie vor dem Tod ein.»
«Dann haben wir des Rätsels Lösung. Er wurde geschlagen und konnte sich nicht mehr wehren, als er am Strick hochgezogen wurde. Also eindeutig Mord.»
Zwischen den umherwuselnden Spurensicherern trat Heinlein hervor. «Wenn du jetzt noch den Täter präsentierst, bin ich sprachlos.»
Kilian dachte einen Augenblick nach. «Wenn man sich fragt, wer durch den Tod Mangels profitiert, dann könnte man auch an deiner Haustür klingeln.»
«Das hättest du wohl gern.»
«Apropos Haustür. Mangel wohnt doch hier in der Nähe?»
Heinlein zeigte auf die Lichtung. «Dort hinten beginnt die Siedlung. Sofern mich nicht alles täuscht, lebt er mit seiner Familie in einer dieser neuen Landvillen.»
«Irrtum», widersprach Pia. «Seine Frau hat sich von ihm getrennt und die Kinder mitgenommen.»
«Woher weißt du das schon wieder?»
«Mal öfters bei der Staatsanwaltschaft vorbeischauen würde auch dir nicht schaden. Ich glaube, vor einem halben Jahr war’s, als sie auf und davon ist.»
«Wo lebt sie jetzt?»
«Sie ist zurück in ihre Heimat. Irgendwo in der Nähe von Köln.»
Ohne eine Gefühlsregung zu zeigen, blickte Heinlein hinab auf den toten Mangel – der ehemals größten Gefahr für seinen Sohn. «Wie kommst du auf Mord?», fragte er Kilian.
Er zeigte ihm den Strick, den Abrieb und wie das Seil am Baum befestigt war. «Wenn wir keinen Stein oder etwas Ähnliches finden, von dem er gesprungen sein könnte, sehe ich keine andere Möglichkeit.»
Heinlein ging zum Baum und suchte nach einer Spur, die darauf hinwies, dass er ihn bestiegen hatte und dann gesprungen war. Doch da war nichts. Um auf den Ast zu kommen, hätte Mangel Hilfe benötigt, und am Boden war nichts davon zu sehen, außer verdorrtem Gebüsch, das sich um den Stamm schmiegte. Er strich die dürren Halme zur Seite, und zum Vorschein kam etwas Moosbewachsenes, das auf den ersten Blick nicht zu erkennen war.
«Und was hältst du davon?», fragte Heinlein.
«Verdammt, das habe ich übersehen. Was ist das?»
Kilian rief einen Kollegen der Spurensicherung herbei, der den Brocken fotografierte und dann den Bewuchs an einer Stelle vorsichtig entfernte.
«Das könnte ein Flurstein sein», sagte Kilian. «Aber nein.» Er zeigte auf etwas, das wie ein Buchstabe
Weitere Kostenlose Bücher