Das Mordkreuz
drohenden Strafe zu verschonen. Da soll es aus dem Bildstock zu ihm gesprochen haben:
Gedenck dein Sündt seint Schult daran
.»
Heinlein ließ die Geschichte auf sich wirken. Sicher, es war eine Legende, wie es viele dieser Art um Bildstöcke gab. Doch konnte das tatsächlich Zufall sein?
«Ich glaube, ich weiß, was Sie denken», sagte ein nicht minder nachdenklicher Kremer. «Zuerst die Geschichte von der Mathild und dem korrupten Vogt und jetzt das.»
«Seltsam», bestätigte Heinlein. «Wer könnte die Legende von den beiden Brüdern und dem hinterhältigen Advokaten kennen?»
«Das Buch ist 1910 erschienen. Ich schätze, in einer Auflage von mehreren hundert Stück. Das bekommen Sie nur noch über ein Antiquariat oder in einer gut sortierten Bibliothek. Wer weiß, wer die Geschichte noch abgedruckt hat. Es müsste jemand sein, der sich mit Bildstöcken und den Sagen Mainfrankens gut auskennt, zumindest sich dafür interessiert. Das können Steinmetze, Volkskundler oder auch Heimatpfleger sein.»
«Gibt es viele davon bei uns?»
«Nahezu jede Gemeinde hat einen Heimatpfleger. Zusätzlich arbeiten noch welche für den Landkreis. An den Universitäten gibt es Lehrstühle für Volkskundler, und Steinmetze finden Sie zuhauf.»
«Aber unser Mann oder unsere Frau scheint sich besonders gut auszukennen.»
«Das stimmt. Dieses Buch ist sicherlich nicht leicht zu bekommen. Oder er hat Glück gehabt. Apropos, ich habe da noch etwas vergessen.»
«Ich höre.»
«Die Sache mit der Weißen Frau beschäftigt mich.»
«Da sind Sie nicht der Einzige. Ganz Würzburg spricht darüber.»
«Ich habe in meinen Unterlagen nochmal nachgeschaut und bin auf eine Sage gestoßen, die eine Erscheinung im Holunderbusch zum Inhalt hat.»
«Holunderbusch? Ich verstehe nicht, was Sie meinen.»
«In der Nähe des Fundorts von Richter Zinnhobel steht doch ein Holunderbusch, direkt an der Friedhofsmauer. Diese drei Jugendlichen, die die Leiche entdeckt haben, wollen doch laut Zeitung ein helles Licht oder eine Weiße Frau gesehen haben, die aus dem Holunderbusch gekommen ist.»
«Stimmt, ja. Erzählen Sie.»
«Es ist nur eine Sage, aber sie scheint mir für die Umstände recht bezeichnend zu sein. Sie handelt von einer frommen Bauersfrau. Jeden Abend saß sie am Fenster und betete den Rosenkranz. Als die Nacht hereingebrochen war, sah sie einmal ein Licht in einem Holunderbusch. Sie ging hinaus und fragte im Namen Jesu, was es mit dem Licht auf sich habe. Aus dem Holunderbusch hörte sie die Antwort, dass eine arme Seele auf Erlösung warte. Wenn ihr drei Messen gelesen würden, könnte die Seele Ruhe finden, und das Licht würde erlöschen. Die fromme Bauersfrau veranlasste dies – und tatsächlich, nach der dritten Messe erlosch das Licht im Holunderbusch.»
«Wo soll das, der Überlieferung nach, stattgefunden haben?»
«In einer Gemeinde namens Rimbach, die zum Landkreis Kitzingen gehört, früher zum Landkreis Gerolzhofen.»
«Das ist ein gutes Stück entfernt.»
«Richtig. Deswegen habe ich auch kein großes Aufsehen darum gemacht. Aber jetzt, nachdem ich die Geschichte um den hinterhältigen Advokaten gelesen habe, die mit dem Tod von Staatsanwalt Mangel in Verbindung zu stehen scheint, kommt mir das schon etwas seltsam war. Finden Sie nicht auch?»
Heinlein antwortete nicht. Ja, das war es. Diese seltsame Anhäufung von alten Geschichten im nahen Umfeld von zwei Morden.
19
War es die Hitze, der Alkohol oder womöglich beides, die den Übermut förderten? Nach einem schweißtreibenden Tag im Archiv der Strafjustiz sah Kilian eine weiße Gestalt, die todesmutig auf der Befestigung der Alten Mainbrücke herumturnte. Jenseits der steinernen Brüstung ging es metertief hinunter in das Flussbett des ausgezehrten Mains. Diesseits johlte eine Gruppe betrunkener Jugendlicher der Gestalt zu, die offensichtlich eine Weiße Frau darstellte. Die Passanten maßen dem makabren Schauspiel nur wenig Aufmerksamkeit bei. Ihr Weg führte sie schnellstens in den nächsten Biergarten.
Auch Kilian hatte sich mit Pia und Heinlein zum Abschluss eines anstrengenden Arbeitstages im Biergarten am Alten Kranen verabredet. Unterm Arm trug er die Früchte seiner Arbeit – die Gerichtsakten dreier ausgewählter Verfahren, an denen Zinnhobel und Mangel beteiligt gewesen waren. Es gab deren noch weitere, aber nach Aussage von Staatsanwältin Lichtenhagen seien es diese drei, die in den letzten Jahren für Aufsehen gesorgt hatten.
Kilian ging
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