Das Mordkreuz
um sechs Uhr begann. Heinlein hatte ihm ein Praktikum, wie er es nannte, in einer Einrichtung für betreutes Wohnen verschafft. Dort sollte Thomas nahe am Subjekt arbeiten, was in diesem Fall hieß, ehemalige Drogenabhängige bei ihrer Resozialisierung zu unterstützen.
Auf dem abgeschirmten Liegestuhl hatte es sich Heinlein für die anstehende Lektüre richtig bequem gemacht. Eine Sommerhäuser Scheurebe verlieh ihm die notwendige Leichtigkeit, die er brauchte, da er sich Veras Literaturauswahl noch einmal zu Gemüte geführt hatte und mit zunehmender Begeisterung die Beschreibungen von Bildstöcken und ihren Verwandten las. Da gab es Steinkreuze, Radkreuze, Ringkreuze, Kreuzsteine und dergleichen mehr. Die Verbindung von Mord und Kreuzstein brachte ihn schließlich zu den Sühne- und Mordkreuzen.
Sühnekreuze, so las er, waren sogenannte Denkmalemittelalterlichen Rechts. Sie waren Teil von Sühneverträgen, die zwischen zwei verfeindeten Parteien geschlossen wurden, um eine Blutfehde wegen eines begangenen Mordes oder Totschlags zu beenden. Der überwiegende Teil dieser Kreuze sei in Kreuzform gehauen worden und stammte aus der Zeit zwischen dem dreizehnten und sechzehnten Jahrhundert.
In jenen Jahren war es üblich, an der Stelle, wo ein Mensch eines gewaltsamen, aber nicht beabsichtigten Todes durch einen Dritten starb, ein steinernes Kreuz aufzustellen. Der Totschlag war eine Privatangelegenheit, um die sich die Gerichte nur selten kümmerten. Konnte der Täter sich mit den Hinterbliebenen des Erschlagenen auf gütlichem Wege einigen, dann war er von jeder weltlichen Strafe befreit. Die Einigung zwischen Täter und Hinterbliebenen wurde durch Verträge festgehalten. Darin wurde bestimmt, was der Täter zur Sühne für den Totschlag zu erfüllen hatte.
Darunter fiel unter anderem, für den Toten eine bestimmte Anzahl von Seelenmessen in der Kirche lesen zu lassen. Ferner mussten die Hinterbliebenen mit Geld entschädigt werden, was als Wer- oder Manngeld bezeichnet wurde. Wallfahrten zur eigenen Buße sowie zum Seelenheil des Toten galt es abzuleisten und beglaubigte Bestätigungen über den Vollzug beizubringen. Nicht selten musste der Täter die Heimat für mehrere Jahre verlassen, wenn es nicht mehr ausreichte, den Hinterbliebenen zum Beispiel beim Wirtshausbesuch aus dem Weg zu gehen. Der Täter musste sich mitunter auch verpflichten, Kriegsdienst mit zusätzlich auf seine Kosten angeworbenen Söldnern zu leisten.
Da zählte die Abbitte mit vorgeschriebener Kleidung und einer Anzahl von Freunden am Grab noch zu den kleineren Leistungen, die zu erbringen waren. Jedoch konnten Gerichts und Zeugenkosten, sofern sie anfielen, sowie der Leichenschmaus und eine bestimmte Menge an Wachs, die der Kirche zu stiften war, manch einen in die Armut treiben. Nicht zuletztdas Kreuz, das am Tatort zur eigenen Buße und zum Seelenheil des Toten zu errichten war, galt es zu finanzieren.
Kam der Täter all dem nach, so war seine Blutschuld gesühnt. Tat er es nicht oder scheiterte das Zustandekommen eines Sühnevertrags, dann trat an seine Stelle die Blutrache der Hinterbliebenen, die sie an der Sippe des Täters vollzogen. In dieser Übergangszeit wurde der Körper des Toten nicht begraben, sondern bis zum Vollzug der Rache auf sonderbare Weise konserviert. Er wurde in den Rauchfang, den Schlot, zum Ausräuchern gehängt.
Mit Einführung der Halsgerichtsordnung unter Kaiser Karl dem Fünften im Jahre 1533 war es vorerst vorbei mit derartigen Sühneverträgen. An ihre Stelle trat ein ordentliches Gericht.
Ihnen folgten jedoch die Mordsteine. Sie wiesen auf ein dramatisches, regionales Ereignis hin und wurden im Gegensatz zu den Steinkreuzen verschiedenartig gehauen. Der Mord wurde meistens bildlich festgehalten, da das gemeine Volk ohnehin kaum lesen konnte. Damals wie heute ereignete sich ein Mord oft an einer abgelegenen Stelle, was dazu führte, dass sich daraus eine besonders dramatische Legende um den Mord entspann. Im Laufe der Zeit wirkten an der Tat noch Dritte und Geister mit. Auch Weiße Frauen hatte man angeblich in ihrer Nähe schon gesehen.
Ein interessanter Gedanke, überlegte Heinlein. Er gähnte müde und dämmerte ins Traumreich hinüber. Über ihm erschien ein helles Licht am schwarzen Himmel. Es war kein Stern, dafür war es viel zu nah und viel zu groß. Und es hatte menschliche Formen.
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Nach Claras Tod blieb mir die Liebe zu Irland und ein Mädchen, das mit mir zur Vollwaise geworden war. Wir
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