Das Moskau-Spiel
1982.
Der Mercedes-Benz fuhr mit zischenden Reifen über den nassen Asphalt in Richtung Zentrum. Das Wetter passte zur Stimmung, Flaggen auf halbmast, Menschen mit rotem oder schwarzem Trauerflor. Wenig Autos auf den Straßen. Ein schwarzer Zil 4104 raste über den für die Politprominenz reservierten Mittelstreifen, die Vorhänge an den hinteren Seitenfenstern geschlossen.
»Selbst das längste Siechtum hat ein Ende«, sagte Kolbe, der ihn vom Flughafen Scheremetjewo abgeholt hatte.
Henri Martenthaler hörte kaum zu, das Dauergeschwätz des kleinen, fetten Botschaftsfahrers mit der Boxernase nervte ihn.
»Und der Breschnew, der sah doch schon die ganze Zeit aus wie seine eigene Leiche«, sagte Kolbe, den es nicht verdross, dass sein Fahrgast auf der Rückbank nicht antwortete. »Und jetzt ist er endlich tot. Sie kommen zur rechten Zeit, jetzt ist mal was los.« Er überholte einen Wolga, das Tauwasser spritzte an der Seitenscheibe hoch. »Und, was haben Sie vor in der Hauptstadt vom Arbeiter-und-Bauern-Paradies?«
»Spionieren«, sagte Henri kühl.
Der Fahrer stutzte, dann fing er an zu lachen. »Das war mal ein Guter.« Er lachte weiter.
»Presseabteilung«, sagte Henri. Er zwang sich, ein Mindestmaß an Höflichkeit zu zeigen.
»Das ist ja fast das Gleiche.« Der Fahrer lachte wieder. »Spionieren! Den Witz muss ich mir merken.« Er schniefte. »Und wer macht das Rennen?«
Henri schaute aus dem Fenster. Graue Fassaden, dann eine Einfahrt, darüber ein rotes Transparent mit Hammer und Sichel und einer Aufschrift, die den roten Oktober pries. Gesichtslose Zweckbauten, Zwiebeltürme mit abblätternden Golddächern und Kreuzen. Verschlissene Gardinen.
»Andropow oder Tschernenko?«, fragte der Fahrer.
Zwei alte Männer. Einer von ihnen würde der neue Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion werden, Chef des zweitmächtigsten Landes der Erde.
»Also, ich tippe auf Tschernenko«, sagte der Fahrer, dem es nun offensichtlich egal war, ob sich der Mann auf der Rückbank für sein Geschwätz interessierte.
Henri sah die Betonklötze auf beiden Seiten der Straße. Im Hintergrund ein Stalinbau mit Spitzturm, der an eine Kathedrale erinnerte. Er hatte im Vorbereitungslehrgang erfahren, dass solche Bauten nicht nur Behörden beherbergten, sondern auch Wohnhäuser waren.
Der Fahrer bog rechts ab, dann sagte er: »So, das ist nun die Uliza Bolschaja Grusinskaja Nummero 17, Ihr künftiger Arbeitsplatz. Wenn Sie nicht gerade spionieren.« Er drehte sich um und zwinkerte Henri mit einem Auge zu, dann lachte er.
Sie warteten, bis das Stahltor der Botschaft sich öffnete, nachdem Kolbe dem Wachhabenden seinen Ausweis gezeigt hatte.
»Viel Erfolg beim Spionieren!«, sagte der Fahrer, während er den Kofferraum öffnete und Henri sein Gepäck gab, einen Koffer und eine Reisetasche. Die packteer gemeinsam mit seiner Aktentasche mit der linken Hand, den Koffer mit der rechten. Kolbe eilte voraus, um die Tür zu öffnen. Dann zwinkerte er noch einmal und verschwand.
Am Tresen saß eine in die Jahre gekommene Dame, todschick gekleidet mit einem beigen Kostüm, perfekte Hochfrisur, eine schmale Brille mit Goldgestell auf der Nase.
»Martenthaler«, sagte Henri. »Ich bin …«
»Ich weiß«, sagte die Dame. »Wenn Sie mir bitte Ihren Bundespersonalausweis geben, muss leider sein, dann rufe ich Herrn Weihrauch, den Leiter der Pressestelle.«
Henri stellte das Gepäck ab.
Sie betrachtete den Ausweis, dann nahm sie den Telefonhörer ans Ohr, drückte einen Knopf und meldete Henris Ankunft. Sie nickte und legte auf.
»Er kommt gleich«, lächelte sie.
Henri schaute sich um. In einem Drehständer Karten und Infomaterial über Moskau. An der Wand ein Glaskasten mit Bekanntmachungen, einschließlich des Speiseplans für die Kantine.
Er hatte die Aufzugstür übersehen, bis sie sich öffnete. Ein kleinwüchsiger Mann mit kurzen schwarzen Haaren tippelte ihm stramm entgegen, die Energie in Person. Er stoppte vor Henri, schaute ihm aus klaren braunen Augen ins Gesicht, drückte ihm kräftig die Hand, wohl um zu zeigen, dass geringer Körperwuchs nicht gleichbedeutend war mit Kraftlosigkeit. Henri verstand sofort, dass Weihrauch von morgens bis abends dagegen kämpfte, klein zu wirken. Der Mann war anstrengend, keine Frage. Na ja, dachte er, andere fangen wegen so was Kriege an.
»Kommen Sie! Das Gepäck lassen Sie hier stehen. Das bringt Herr Kolbe nachher in Ihre Wohnung. Die ist übrigens nicht weit von
Weitere Kostenlose Bücher