Das Moskau-Spiel
dazu gedacht, ihn lächerlich zu machen oder dem Dienst einen Maulwurf unterzuschieben. Henri nahm sich Zeit, aber irgendwann entschied er, und dann zog er die Sache durch. Er war inzwischen reif genug, um anzuerkennen, dass er diese Art, an die Dinge heranzugehen, von seinem Vater geerbt hatte, und dass er dieses Erbe nicht mehr ausschlagen konnte, selbst wenn er es gewollt hätte. Doch in seinem Inneren war er nicht ruhig, schon gar nicht kalt.
Dieser verdammte Brief, was sollte er mit ihm machen? Morgen schon – er schaute auf die Uhr –, nein,heute Nachmittag sollte er den Unbekannten treffen. Er stellte sich vor, wie er am großen Kaufhaus wartete mit Blick aufs Mausoleum und wie er plötzlich umringt wurde von einer Horde von Typen, die ihn in einen Lieferwagen verschleppten und dann verprügelten oder sonst was mit ihm anstellten.
Es war zum Kotzen.
Aber eine innere Stimme sagte Henri, als er wieder zum Fenster hinausschaute, dass da draußen irgendwo die große Chance seines Agentenlebens wartete.
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Bei Kolja war eine Mischung aus einem Restaurant und einem Teehaus, oder wie immer man ein Lokal nennen wollte, das nicht nur Soljanka, Pelmeni oder Borschtsch anbot, sondern auch süßes Gebäck, Tee aus dem Samowar, Schokoladen und Speiseeis. Tische und Stühle waren rustikal, die Vorhänge vollgesogen mit Rauch, deren Schwaden die Gäste in einen milden Nebel tauchten. Das Licht schummerte gelbrot, der Wirt trug einen speckigen Lederschurz und hatte ein Schweinchengesicht unter einer Halbglatze. Er stand hinter dem Tresen, im Rücken Flaschen über Flaschen, und starrte Theo an, als der die Tür geschlossen hatte und blinzelte, um sich an die Sichtverhältnisse zu gewöhnen.
Er hatte den späten Nachmittag damit verbracht, mögliche Verfolger abzuschütteln, nachdem er zuvor in der Botschaft dafür gesorgt hatte, dass die Urne schnellstmöglich nach Deutschland geschafft würde, um sie dort untersuchen zu lassen. Allerdings machte er sich keine Hoffnung, dass diese Untersuchung irgendetwas Aufschlussreiches ergeben könnte. Danach hatte er sich früh auf den Weg gemacht. Er hatte die Straßenseiten gewechselt, war in Metrostationen in letzter Sekunde aus dem Wagen gesprungen oder in einen eingestiegen, um dann so zu tun, als hätte er sich in derU-Bahn geirrt, hektischer Blick auf die Uhr, den Stadtplan immer in der Hand. Dann war er durch die Innenstadt gestreift, hatte sogar ein Taxi bekommen, von dem er sich durch die Gegend kutschieren ließ wie ein Tourist, der nicht wusste, was er wollte, immer wieder den Blick unauffällig nach hinten gewandt.
Eine Zeit lang war Theo sicher gewesen, dass er einen Beschatter entdeckt hatte. Ein kleiner Kerl mit einer Pelzmütze auf dem Kopf, die Prawda in der Hand, dann wieder nicht, einmal hatte er den Mantel an, dann trug er ihn trotz der Kälte über dem Arm, um sein Äußeres zu verändern. Er hätte die Pelzmütze ebenfalls absetzen sollen. Beruhigend, dass auch bei der Konkurrenz Deppen arbeiteten. Das war wahrscheinlich der Aufpasser vom Dienst, und vielleicht war er der Einzige, der sich um Theo kümmerte. Der wollte ja nicht ewig bleiben, nur eine Urne in Empfang nehmen und ein paar lästige Fragen stellen, vor denen aber niemand zitterte bei den russischen Sicherheitsbehörden. Theo war für die ein kleiner Fisch, und für einen kleinen Fisch brauchte man keine Flotte. Da reichte ein Depp.
Doch Theo schloss nicht aus, dass der Pelzmützendepp ihn nur ablenken sollte. Er zog also sein Schüttelprogramm durch, bis er sicher war, dass ihm niemand mehr folgte, der Depp schon gar nicht. Den hatte er gleich abgehängt. Als der Abstand zu ihm groß genug war, sprang Theo in den letzten Wagen der Elektrischen, die gerade vorbeifuhr, und konnte im Augenwinkel noch das dumme Gesicht bewundern, das sein geheimer Freund aufgesetzt hatte. Zwei Stationen weiter stieg er aus dem Wagen, ging in ein Schmuckgeschäft, erwehrte sich eines aufdringlichen Verkäufers, bis er den Deppen durchs Schaufenster vorbeieilen sah. Dann wieder eine Runde mit der Metro. Da fiel es nicht auf, wenn ein Ausländer auf den Bahnhöfen umherstarrte. Auf diese Bahnhöfe, jeder ein pathetisches Kunstwerk für sich, waren die Moskauer stolz.
Die Metro, die tief unter der Erde über ihr weites Netz raste, presste ihre Fahrgäste nach vorne beim Bremsen und nach hinten beim Beschleunigen wie ein Sportwagen. Am Kiewer Bahnhof stieg er aus und drehte sich im Gedränge auf der langen
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