Das Moskau-Spiel
einmal. Wenn, dann hat er sich wahrscheinlich das Hirn weggetrunken. Der Chef heißt Wladimir. Er ist ganz verträglich, wenn man ihn nicht reizt.«
»Beruhigend. Dann habe ich ja eine Chance, diesen Abend zu überleben.«
»Vielleicht.« Sie lachte. Ohne Brille und Arztkittel sah sie wirklich gut aus, irgendwie wie eine sportliche Studentin, obwohl sie über dieses Alter hinaus war. Er überlegte, welches Risiko sie einging. Und warum sie es tat.
»Wo haben Sie studiert?«, fragte er.
»An der Lomonossow-Universität.«
Theo hatte den Zuckerbäckerbau gleich vor Augen. Der riesige Turm, mehr als zweihundert Meter hoch, der auf den Sperlingsbergen über Moskau ragte. »Dann sind Sie eine waschechte Moskauerin?«
»Waschecht? Was heißt das? Also, wir Russen kennen schon Badewannen und Duschen.«
Ihr Haar glänzte, das fiel ihm jetzt auf.
Er lachte. »Ach, wirklich, ich dachte …« Sie grinste. »Übersetzen Sie es mit ›echt‹ oder ›pur‹. Das sagt man im Deutschen so.«
»Waschecht«, wiederholte sie, »komisches Wort. Muss ich mir merken.«
Dann stand der Mann mit der Lederschürze am Tisch, Theo hatte ihn nicht kommen gesehen.
»Hallo, Sonja«, sagte er mit einer erstaunlich klaren Stimme, als würde er weder rauchen noch trinken. Dann fixierte er Theo.
»Tag, Wlad, das ist ein … Bekannter. Heißt Theo, kommt aus Deutschland.«
Wladimir nickte gnädig.
»Wir nehmen beide Pelmeni, sto gramm Wodka und Wasser.« Sie wandte sich an Theo: »Ja?«
Er schürzte die Lippen, schluckte seinen Widerstand hinunter und nickte. Dann packte ihn die Angst vor dem Alkohol. Konnte er es sich leisten zu trinken? Konnte er es sich leisten, nicht zu trinken?
»Eigentlich trinke ich keinen Alkohol«, sagte er bemüht ruhig.
»Und dann kommen Sie nach Russland? Glauben Sie, wir haben den alkoholfreien Wodka erfunden?« Sie lachte, und er wusste, er würde sein Glas leeren müssen bis zur Neige. Das machte ihm weniger Angst als die Vorstellung, was danach kommen würde. Die lange verdrängten Bilder standen ihm plötzlich vor Augen. Wie er sich in seiner Einzimmerwohnung mit Whisky betrank, bis er kotzen musste. Wie er sich schwor, nie wieder zu trinken, und am Abend darauf gleich weitermachte. Weil er nicht wissen wollte, wer er war, obwohl er das ganz genau wusste. Ein Versager mit einer Mutter, die ihr schlechtes Gewissen durch übertriebene Fürsorglichkeit bekämpfte, die ihm die Luft zum Atmen nahm und sich wunderte, dass er vor dem Erstickungstod floh in das Labyrinth einer Behörde, derschon der Vater gedient hatte. Der Vater, über den im Dienst Unverständliches, Undeutliches gemunkelt wurde, Widersprüchliches, sodass man nichts glauben konnte, außer dass der Vater irgendetwas Besonderes getan hatte. Im Guten oder im Schlechten oder irgendwie dazwischen.
Sie schaute ihm zu beim Nachdenken, dann sagte sie: »Wenn wir lange überlegt hätten, statt gleich zu bestellen, hätte er angefangen zu fragen. Er ist offenbar in Schwatzlaune. Dann hört er nicht mehr auf. Manchmal setzt er sich an den Tisch. Und wenn er betrunken ist, singt er. Nicht mal schlecht. Soldatenlieder, am liebsten Flieger. Roter Propeller, wenn Ihnen das was sagt.« Er schüttelte den Kopf. »Aber dann kann man sich nicht mehr unterhalten.«
Sie war jetzt nicht mehr die Ärztin, sondern eine gut gelaunte Frau, die gern mit ihm sprach. Oder so tat. Nichts an ihr deutete darauf hin, dass sie ihre Vorgesetzten überging, dass schon dieses Treffen mit ihm ihr einen Haufen Ärger einbringen würde, wenn es herauskäme.
»Frau Kustowa, die Sache mit der Urne …«
»Das ist doch klar«, sagte sie. »Die Weisung kam von ganz oben. Ich habe protestiert, sehr laut und sehr deutlich. Das ist kein Unfallopfer, habe ich gesagt, sondern eine Leiche, die aussehen soll wie eines. Das habe ich schon bei der Obduktion entdeckt.«
»Die haben Sie täuschen wollen? Wer immer die sind.«
»Natürlich. Sie haben versucht, mich, wie sagt man, … zu verarschen. Das sagt man doch, oder?«
Theo nickte. »Gilt aber nicht als ganz fein.«
»Es ist auch nicht fein, was die getrieben haben. Sie haben eine Leiche so präpariert, dass die Gerichtsmedizin glauben sollte, der Mann sei überfahren worden. Sie haben es aber schlecht gemacht. Es gab Würgemale am Hals, die kriegen Sie nicht bei einem Unfall.Und an den Oberarmen sind Striemen, so sagt man doch, oder?«
Er nickte.
»Der wurde an den Oberarmen festgehalten oder mit Riemen gebunden, ein Seil oder
Weitere Kostenlose Bücher