Das Moskau-Spiel
überlegte, ob er erneut protestieren sollte, aber er unterließ es, weil es sinnlos war. Und insgeheim fand er das Vorgehen des Majors nicht unberechtigt. Er war ein Agentenführer, wenn auch unter diplomatischer Tarnung. Er missbrauchte diese Tarnung, wie es fast alle taten, vor allem die Sowjets, deren Botschaften in aller Welt auch Stützpunkte des KGB waren.
Der Major schniefte, schaute Henri an, dann nahm er endlich den Umschlag.
»Haben Sie meine Botschaft unterrichtet?«, fragte Henri, als könnte er so das Unvermeidliche aufhalten.
Der Major schniefte noch einmal, dann lächelte er. »Alles zu seiner Zeit.«
»Ich genieße diplomatische Immunität. Die Verhaftung ist rechtswidrig. Nennen Sie mir Ihren Namen.« Es war die Enttäuschung, die Henri antrieb, als müsste er sich später vergewissern, alles getan zu haben, um zu verhindern, was nun zwangsläufig geschehen würde.
»Alles zu seiner Zeit.« Der Major schniefte und lächelte. Er schob ein Päckchen Malboro über den Tisch und deutete mit der Hand darauf, die Handfläche nach oben gekehrt. Henri reagierte nicht.
Der Major öffnete betont langsam den Umschlag. In diesem Augenblick wurde Henri klar, dass der Major längst wusste, was in dem Umschlag war.
»Sie sind kein Diplomat. Sie sind ein Spion.« Er lächelte. Dann verzog er das Gesicht, als wäre ihm das, was er nun sagen müsste, zutiefst unangenehm, als würde es ihn geradezu quälen. Ohne einen Blick auf das Material zu werfen, das er aus dem Umschlag gezogen hatte, sagte er: »Sie haben gegen die Gesetze meines Landes verstoßen. Wenn ich recht informiert bin, dann gibt es auch in Ihrem Land Gesetze, die Spionage verbieten. Es widerspricht internationalem Recht, unter dem Deckmantel der diplomatischen Immunität zu spionieren. Insofern Sie sich also auf eine angebliche diplomatische Immunität beziehen wollen, gestehen Sie in Wahrheit nur ein zweites schweres Verbrechen ein.« Dann: »Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?«
Immer noch lag das Material zum Projekt R-33 unbeachtet auf dem Schreibtisch. Henri begriff, dass es eine Demonstration war. Entweder hatten sie ihn und seinen Spion überwacht und sich einen geeigneten Zeitpunkt ausgesucht, sie hochgehen zu lassen. Was für den Spion so gut wie sicher den Tod bedeuten würde. Oder sie hatten einen Provokateur auf ihn angesetzt, einen Doppelagenten, der ihn aufs Glatteis führen sollte.
»Einen Tee?«, wiederholte der Major.
Henri nickte.
Mit einer Bewegung des Kinns schickte der Major die KGB – Milizionäre hinaus. Dann saßen sie sich schweigend gegenüber. Henris Blick schweifte die grauen Betonmauern entlang, der Major musterte Henri.
Endlich kam ein Milizionär mit einem Tablett, darauf Teekanne und Becher, dazu Zucker, Milch und Löffel.
Der Major nickte fast unmerklich, und der Milizionär zog ab.
Der Major stand auf, nahm die Kanne und goss ein. Er schob Zucker und Milch zu Henri, der nur Zucker nahm. Der Major bediente sich an beidem und setzte sich wieder. Er schniefte.
»Wir sind jetzt unter uns«, sagte er.
Henri blickte ihm streng in die Augen, ließ dann seinen Blick schweifen und schüttelte schließlich den Kopf.
Der Major ließ seine Augen rollen. »Kommen Sie«, sagte er freundlich. »Kommen Sie bitte!« Er reichte Henri seinen Mantel.
Henri erhob sich und zog den Mantel an. Was hatte der Major vor?
Der öffnete die Tür und winkte Henri, ihm zu folgen. Nirgendwo ein Milizionär. Sie gingen Seite an Seite.
»Wollen Sie einen Schal?«, fragte der Major.
Henri starrte ihn nur an.
Sie gingen hinaus auf den Hof, und Henri fragte sich, welche Sauerei sie für ihn vorbereitet hatten. »Wo wollen Sie hinfahren?«
»In die Botschaft«, sagte Henri.
»Einverstanden«, sagte der Major. »Unter der Bedingung, dass Sie mir zwei Stunden Ihrer Zeit opfern.«
[Menü]
VIII .
Theo rechnete sich aus, wie groß die Chancen waren, wenn er auf eigene Faust in Moskau ermittelte. Vielleicht drei Promille. Er grinste. Drei Promille, die warfen ihn nicht um. Was musste er tun, um seinen Plan zu verwirklichen? Lauter Dinge, die wahrscheinlich illegal waren und wenigstens seinen Rausschmiss bedeuten konnten. Vermutlich würde es noch schlimmer kommen. Dem Rausschmiss sah er mit Gelassenheit entgegen, er hatte nichts getaugt als Agent im Feldeinsatz, und wenn sein Plan nicht klappte, dann war es nur die Bestätigung. Er würde so vorgehen wie beim ersten Mal, im Prinzip jedenfalls, aber diesmal würde er die richtigen Fragen
Weitere Kostenlose Bücher