Das Moskau-Spiel
Halbkreis. »Hier liegen viele unserer Großen. Im Leben haben sich manche gehasst, tödlich gehasst, aber im Tod geben wir ihnen keine Wahl. Jetzt müssen sie sich vertragen. Vielleicht wäre es klüger gewesen, sie hätten es vor ihrem Tod getan.«
Henri mühte sich, genau zuzuhören. Was wollte der Mann, der ihm da in aller Gemütsruhe einen Vortrag hielt?
»Schauen Sie, die Allilujewa, Stalins Frau. Man sieht der Skulptur sogar an, wie sehr sie hat leiden müssen.« Ihr Kopf wuchs aus einem hellen gemaserten Marmorblock, körperlos, die Nasenspitze abgeschlagen, als könnte nicht einmal der Tod ihr Leiden beenden.
»Und ihren Mann findet man am Lenin-Mausoleum«, sagte Henri.
»Wenn Sie mich fragen, er hat dort nichts zu suchen. Man sollte ihn irgendwo verscharren.«
Sie gingen eine Weile. Henri achtete nicht auf den Weg, ihn fröstelte es. »Schauen Sie, Schostakowitsch, mit Noten: D-eS-C-H.« Der Major blieb eine Weile vor dem bescheidenen Grabstein stehen. »Er ist seinen Weg gegangen, manchmal schlängelnd, aber immer seinen Weg. Stalin hätte ihn gern umgebracht, aber Schostakowitsch war zu groß.« Der Major versank wieder in seinen Gedanken. »Erstaunlich nur, dass Stalin es gemerkt hat.«
Henri überlegte fast schon verzweifelt, was Eblow ihm sagen wollte. Was sollte diese Tour im Friedhof? »Sie werden mich ausweisen, morgen schon, nicht wahr?«
Eblow blieb stehen und schaute ihn lange an. Hinter ihm legte eine junge Frau rote Blumen auf ein Grab. Blumen im Winter in Moskau. »Wenn Sie es nicht wollen, schickt Sie keiner nach Hause. Ich jedenfalls nicht.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Aber ich bin ein Spion.«
»Ich auch«, sagte Eblow. »Sehen Sie, würden wir Sie nach Hause schicken, käme der nächste. Wir kennen die amerikanischen, britischen, französischen Kollegen. Wir kennen sie alle. Und die wissen das. Und dass Sie aus Pullach kommen, na, das wussten wir, bevor Sie in Scheremetjewo gelandet waren. Und jetzt haben Sie schon mit meinem Freund Rachmanow geredet. Fanden Sie seine Argumente nicht überzeugend? Dass wir etwas Außergewöhnliches wagen müssen, weil die Lage außergewöhnlich ist. Außergewöhnlich gefährlich.«
»Wollen Sie mich umdrehen?« Henri blieb stehen, als er es fragte, und schaute Eblow in die gemütlichen Augen.
»Das ist Chruschtschow«, sagte er und deutete auf eine sehr moderne Skulptur, aus schwarzem und weißem Marmor, eingebettet wie in einem Schrein der Kopf des ehemaligen Parteiführers. »War kein schlechter Kerl«, sagte Eblow, »auch wenn er sich manchmal aufgeführt hat wie ein wild gewordener Bauer. Aber er hat die Leute am Leben gelassen. Das war damals schon viel.«
Er wandte sich Henri zu: »Nein, ich will Sie nicht umdrehen. Ein Versuch entspräche zwar den Regeln unseres Gewerbes, und unseren Chefs werde ich nachher berichten, dass es mir demnächst gewiss gelingen wird, weshalb Sie auf keinen Fall ausgewiesen werden dürften.«
»Wie lange halten Sie das durch? Wie lange glauben die Ihnen das?« Henri wurde allmählich richtig neugierig, was Eblow vorhatte.
»Solange es nötig ist«, sagte der Major. Ein alter Mann an einem Stock schlurfte vorbei, er musterte die beiden und ging weiter, die Pelzmütze tief über die Ohren gezogen, den Dampf des Atems von sich stoßend wie eine Lokomotive.
»Offen gesagt, ich verstehe kein Wort.«
»Natürlich nicht«, sagte Eblow. »Etwas allgemeiner gesagt, es geht um das, was auch Sie umtreibt: die Rüstung. Die Tatsache, dass wir auf dem Weg sind, uns selbst umzubringen. Darum geht es.«
»Dann empfehle ich Ihnen abzurüsten«, sagte Henri. Aber er dachte an die Amerikaner, auch an Mavick. Und an Rachmanow. Der hatte auch so geredet.
»Natürlich«, sagte Eblow. »Wir müssten abrüsten. Wir müssten noch ganz andere Dinge tun. Wir müssten unsere Gesellschaft … wie sagt man bei Ihnen so schön … umkrempeln. Was auf dem Kopf steht oder nur herumliegt, auf die Füße stellen. Die Fleißigen belohnen, die Faulen bestrafen. Was wir bräuchten, wäre ein wirkli cher Sozialismus.«
Diese Volte irritierte Henri. Was, verdammt, wollte der Mann, der so wie nebenher alles in Frage stellte, was er unter Einsatz seines Lebens verteidigen sollte? Will er überlaufen? Der Gedanke überfiel ihn geradezu.
»Wollen Sie … die Seite wechseln?«
»Nein, aber ich würde mich gern noch einmal mit Ihnen unterhalten. Ganz unverbindlich. Bald.«
»Wenn’s ohne Prügel abgeht«, sagte Henri.
Eblow
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