Das München-Komplott
trinkt.
Beinahe wäre sie wütend geworden. Da sah sie, dass er schwitzte. Eine Schweißperle wuchs auf der Oberlippe, und ein feuchter Film bedeckte seine Wangen und seine Stirn.
Er muss all seinen Mut aufgebracht haben, um mich anzusprechen, dachte sie. Und das wiederum fand sie rührend.
Dass dieser unscheinbare Jüngling zwei so widersprüchliche Emotionen innerhalb kürzester Zeit bei ihr ausgelöst hatte, fand Charlotte dann immerhin so beachtenswert, dass sie sagte, auf einen Kaffee käme sie mit.
Als sie schließlich in einem der typischen Tübinger Studentencafés saßen, tat es ihr schon wieder leid. Harald bekam den Mund nicht auf, sodass sie harte Konversationsarbeit betreiben musste, wie die Großmutter es genannt hätte. Sie karikierte einen ihrer Professoren, der schüchterne Junge lachte und taute ein wenig auf. Auch das hatte sie von der Großmutter gelernt. Wenn du schüchterne Männer knacken willst, stell Fragen. Interessiere dich einfach dafür, was sie machen. Dann reden sie von alleine.
Es funktionierte: Harald studierte Medizin und wollte später einmal Gehirnchirurg werden. Tatsächlich sprudelte er über, als er von seinen Plänen und Absichten erzählte. Es interessierte sie nicht, aber sie hörte zu und feuerte ihn hin und wieder mit einer Zwischenfrage an, um über die schreckliche Stille zwischen ihnen hinwegzukommen.
»Mit dir kann man sich sehr gut unterhalten«, sagte er schließlich.
Zu ihrer eigenen Überraschung nickte sie, als er vorschlug, nach Stuttgart zu einer Tanzveranstaltung zu fahren. Er hatte sich den Golf seiner Mutter geliehen. Sie würden in vierzig Minuten dort sein.
Er schleppte sie in ein altmodisches Tanzcafé am Kleinen Schlossplatz.
Die Besucher waren fast alle im Alter ihrer Mutter.
Eine polnische Kapelle spielte einen Stehblues.
»Magst du tanzen?«
Sie nickte.
Auf der Tanzfläche war er ähnlich unbeholfen wie im Gespräch. Er legte den rechten Arm auf ihren Rücken und schaukelte sie nahezu im Stehen auf der Tanzfläche. Sie merkte, wie er die Luft anhielt, als er langsam, Millimeter für Millimeter, die Finger den Rücken entlang Richtung Po schob.
Als er dann seine Brille abnahm, um besser Wange an Wange tanzen zu können, hätte sie am liebsten schreiend die Tanzfläche verlassen. Gleichzeitig rührte sie diese Geste.
Deshalb sagte sie »gern«, als er sie nach Hause brachte und sie fragte, ob er sie wiedersehen dürfe.
Ihre Großmutter hielt die Bedeutung der körperlichen Liebe für überbewertet, und sie hatte keine Hemmungen, darüber zu sprechen. Der praktische Ton, den sie dabei anschlug, befremdete Charlotte wegen des leicht tiermedizinischen Klangs, aber gleichzeitig amüsierte er sie auch.
Ob sie schon einen Freund habe, wollte der Vater, der ihre Erziehung den beiden Frauen in der Familie überließ, einmal beim Abendessen wissen. Schließlich komme sie doch jetzt in das Alter, in dem man sich naturgemäß für Jungs interessiere.
Charlotte mochte nicht darüber reden, und es war die Großmutter, die ihr zu Hilfe eilte.
»Also, ich weiß nicht«, sagte sie unvermittelt, »ich finde, das Thema Sex wird völlig überschätzt.«
Schlagartig war es still am Tisch.
»Ich habe eigentlich nicht über Sex gesprochen«, sagte der Vater, aber alle warteten auf weitere Erklärungen der Großmutter.
»Na ja«, fuhr sie unwillig fort. »Wegen dem bisschen Jucken so viel Aufregung. Und das soll angeblich die Weltgeschichte verändert haben?«
Alle lachten, aber vielleicht war es dieser praktische, nüchterne Blick, der Charlotte dazu brachte, eine Einkaufsliste aufzustellen für jene Dinge, die sie für das nächste Treffen mit Harald brauchte.
Kondome, das war klar.
Und Alkohol. Das würde auch nicht schaden. Ihr schwante, dass Harald etwas zum Auflockern brauchen würde.
Also zwei Flaschen Champagner.
Kerzen?
Romantische Stimmung?
Überflüssig. Aber vielleicht brauchte er so was, um in Stimmung zu kommen. Mittlerweile war sie neugierig und fühlte sich, als würde sie zu einer Expedition in ein exotisches Land aufbrechen.
Musik?
Was hörte Harald gern?
Vielleicht etwas Stehbluesartiges?
Was sollte sie anziehen?
Was würde er verführerisch finden?
CDs: Kuschelrock 1-8 und ein tragbarer CD-Spieler.
All das packte sie in ihren großen Rucksack und machte sich auf zu dem großen Fest der Medizinstudenten.
Großmutters Tod
Von der Krankheit ihrer Großmutter erfuhr sie durch einen Anruf ihrer Mutter. Sie hatte beim Dekan
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