Das München-Komplott
der Akte gelesen. Bis in den Schlaf hatten ihn die Szenen verfolgt. Jetzt holten sie ihn wieder ein. Bilder, Stimmen, Schreie, der Geruch von Blut.
Die mörderische Ladung der Bombe aus Nägeln, Schrauben, Muttern und kantigen Metallstücken flog 40 Meter weit.
Er musste eine Entscheidung treffen. Wollte er sich mit diesem Verbrechen beschäftigen? Mit dem größten Attentat in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, bei dem 13 Menschen starben, 200 verletzt wurden, 68 davon sehr schwer?
Wir standen am Haupteingang – plötzlich dieser Lichtpilz und ein wahnsinniger Wind. Wir waren so von Menschen eingekeilt, dass wir gar nicht stürzen konnten. Ich sah nach unten – Blut, Blut, Blut.
In der blauen Mappe stecke nur ein kleiner Ausschnitt der Akten, vor allem Presseberichte, hatten sie zu ihm gesagt. Wenn Sie bereit sind, mit uns zusammenzuarbeiten,erhalten Sie die vollständigen Unterlagen. Mehr als 80 Aktenordner.
Einem Verkäufer hatte die Druckwelle eine Handvoll Lose weggefegt. Während die Menschen schrien und verbluteten, suchte er wie ein Irrer nach seinen Losen.
Er ging die geteerte Schneise hinunter. Auf dem Platz waren etliche Halfpipes für Skateboarder aufgebaut. Zwei Jungs sprangen von ihren Brettern, drehten sich einmal um die eigene Achse, landeten wieder auf den Skateboards, fuhren weiter, wendeten und wiederholten das Manöver.
Sie waren großzügig gewesen. Sie hatten ihm eine Suite im Bayerischen Hof reserviert. Auf dem Dachgarten hatten sie gestern Abend gegessen. Sie hatten sich Mühe gegeben. Dann hatte der Präsident gesagt: Wir brauchen Ihre Hilfe. Wir möchten mit Ihnen zusammenarbeiten. Wir möchten, dass Sie noch einmal den Fall des Attentats auf das Münchner Oktoberfest untersuchen.
Überall wälzten sich verstümmelte Menschen schreiend in ihrem Blut. Ich kümmerte mich zunächst um ein zwölfjähriges Kind. In seinem Bauch steckte ein fingerdicker Splitter.
Er war lange Polizist gewesen. Er hatte unzählige Tote gesehen. Er hatte Menschen erschossen. Aber in dieser Nacht hörte er die Schreie der Verletzten und träumte, er wate in Blut.
Er verließ die Theresienwiese über die Matthias-Pschorr-Straße und drehte sich noch einmal um.
Die St.-Paul-Kirche ragte über die Dächer der Stadt hinaus, als sei sie einst schon als Fotomotiv gebaut worden.
Er wählte die Nummer, die sie ihm gegeben hatten.
»Ich brauche Bedenkzeit«, sagte er. »Zwei Tage.«
Die Freunde und die Unbekannte
Im Sommer 2009 stand die Welt vor einem Abgrund. Im vollen Bewusstsein ihres Handelns hatten Banken einander Pakete mit faulen amerikanischen Immobilienkrediten weiterverkauft. Solange die Immobilienpreise in den USA weiter gestiegen waren, war dieses Geschäft risikolos gewesen. Mit jedem weiteren Verkauf der sinnlosen Papiere machten die Banken ein gutes Geschäft. Jeder von ihnen wusste, dass die Blase irgendwann einmal platzen würde, aber jede Bank hoffte, dass ausgerechnet sie zu diesem Zeitpunkt die Papiere verkauft haben würde. Das Ganze glich dem beliebten Kinderspiel »Reise nach Jerusalem«: Zehn Kinder laufen im Kreis um neun Stühle, während Musik spielt. Wenn die Musik stoppt, müssen sich alle setzen. Ein Kind findet keinen Stuhl mehr und hat verloren.
Als die Blase platzte, hatten die Institute das Zweihundertfache des Weltsparaufkommens als Kredite vergeben, und so fanden nur wenige von ihnen einen Platz auf den Stühlen. Die Finanzwelt bebte, als Lehman Brothers Inc. mit einem Schuldenberg von 200 Milliarden Dollar pleiteging. Nun misstraute jede Bank der anderen. Sie liehen sich gegenseitig kein Geld mehr, der internationale Geldverkehr kam zum Erliegen, und die Welt stand plötzlich vor dem Chaos.
Regierungen spendeten Milliardenbeträge, um zu retten, was nicht mehr zu retten war. Ein marodes System.
Während die gleichen Figuren, die die Krise verursacht hatten, im Kanzleramt hofiert wurden und sich dort feixend in Gesprächsrunden fotografieren ließen, die zur Krisenbehebung einberufen waren, traten Staat und Konzerne mit nie erlebter Härte nach unten. Kaisers Kaffee , ein zur Tengelmann-Gruppe gehörendes Einzelhandelsunternehmen, kündigte nach 31 Jahren Betriebszugehörigkeit derKassiererin Barbara E., weil sie angeblich zwei Leergutbons im Wert von 80 Cent und 30 Cent, die ein Kunde vergessen hatte, für sich eingelöst hatte. Nachweisen konnte das Gericht dies der Kassiererin nicht. Die Verdachtskündigung wurde trotzdem von zwei Instanzen der
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