Das München-Komplott
unbemerkt aus der öffentlichen Wahrnehmung und Erinnerung. Sein Füller kreiste über dem leeren Blatt Papier, aber er entschloss sich, diese Frage auf später zu verschieben. Vielleicht war es sein alter Polizeiinstinkt, der sich bei allem und jedem die Frage stellte: Wem nützt es? Wo liegt ein Motiv?
Die Bombe war in einem Papierkorb aus Eisengitter deponiert gewesen, der an einem Verkehrszeichen befestigt war. Standort war die Einmündung der Wirtsbudenstraße, die über die Theresienwiese und in den Bavariaring führt. Alle Augenzeugen berichteten von einer hohen Stichflamme, die senkrecht in die Luft gestiegen war, gefolgt von einer schweren Explosion. Die Detonation war so schwer, dass sie die ganze Festwiese zum Beben brachte, noch in einem Umkreis von mehreren hundert Metern klirrten die Fensterscheiben. Die Druckwelle riss die Außendekoration der umliegenden Bierzelte ab.
Er las noch einmal die Zeugenaussagen, vielleicht konnte er sie jetzt – am frühen Morgen – besser ertragen als neulich nachts in München.
»Danach war es zunächst totenstill. Dann laute Schreie. Mein Bruder Albert ist sofort hingelaufen. Er ist Sanitäter und wollte helfen. Er kam jedoch zurück, weinte und schrie: ›Was soll ich tun?‹«
»Wir sahen nur zerstörte Körper«, sagte eine Frau.
Bericht der Welt am Sonntag , die die Fruchthändlerin Josephine F. zitiert: »Ich hatte gerade eine Kokosnuss in der Hand. Plötzlich sah ich rechts vor mir eine Stichflamme, dann spürte ich einen unheimlichen Druck. Die Nuss flog mir aus der Hand, der Mann vor dem Laden war wie von Geisterhand verschwunden. Vor mir stand die Schale mit Hartgeld. Durch den Sog prasselte es an mir vorbei in die Luft. Hinter mir wurde die Kassette wie mit übermächtiger Gewalt aus dem Rekorder gezogen. Ich dachte, es sei ein Traum. Dann aber hörte ich Schreie, Wimmern.«
Dengler las von einem Mann, der auf einen Polizisten losstürmte und versuchte, ihm die Dienstwaffe zu entreißen. » Gebt mir eine Waffe«, schrie er, »erschießt mich, betet ein ›Vaterunser‹ .« Seine kleine Tochter lag tot vor ihm.
Eine Imbissverkäuferin erzählte: »Ich schnitt neue Fischbrötchen auf. Plötzlich war alles sehr hell. Ich wurde in die Ecke geschleudert, über mir schlugen Eisenstücke ins Holz.« Vor ihrer Bude lag ein totes Kind, »der ganze Körper zerfetzt, der Bauch offen. Neben dem toten Kind lag ein Mann, dem beide Beine abgerissen waren.«
Ein Losverkäufer: »Ich sah den Blitz, und plötzlich lag die lange Schlange von Menschen vor meinem Losstand wie umgemäht überall zerstreut auf der Erde .«
Die Besitzerin einer Brotzeitstube: » Ich habe bloß geschrien, ich hab gedacht, ich hab keinen Kopf mehr. Die Leute lagen da alle rum, zerfetzt, mit abgerissenen Armen und Beinen. «
Aus dem Bericht der Sonderkommission: »Die Bombe zerriss den Papierkorb in ungezählte, scharfkantige Metallsplitter, die die Wirkung der Bombe vervielfältigten.«
Die Bild-Zeitung schrieb: »Die mörderische Ladung der Bombe aus Nägeln, Schrauben, Muttern und scharfkantigen Metallstücken flog 40 Meter.«
»Ich stolperte in ein Meer sich krümmender Leiber. Ich fiel über abgetrennte Oberschenkel, Beine und Hände. Ich sah einen Mann, dem das Blut in einem Strahl aus dem rechten Fußstumpf schoss«, erzählte ein Pressefotograf.
»Meine Hand, meine Hand – es ist ein Loch «, schrie ein Mann.
Eine Viertelstunde nach dem Attentat waren bereits 25 Mediziner vor Ort, 43 Ambulanzwagen trafen ein sowie spezielle Operationsbusse.
In siebzehn Kliniken in München und Umgebung kämpften Ärzte und Krankenschwestern um das Leben der Opfer .
»Meine Patienten hatten Splitterverletzungen, sie waren taub geworden und hatten versengte Haare. Niemand wusste, was passiert war. Wir tippten auf eine explodierende Gasflasche«, erklärte einArzt. »Unregelmäßige Metallfetzen – Splitter der Rohrbombe und des Papierkorbs – verursachten bei den meisten Patienten schwere und komplizierte offene Verletzungen vor allem an den Beinen«, sagte ein anderer.
»Einer unserer Patienten hatte einen fast kompletten Oberschenkelabriss. Wir hofften, dass wir das Bein retten konnten. Bei anderen Opfern stellten wir offene Unterschenkelfrakturen fest, einer hatte eine schwere Schädelverletzung.«
Die Welt schrieb, wie sich tausende Schaulustige derweil längs des Wiesn-Eingangs drängten. Die Polizei hatte sehr schnell den Tatort abgesperrt, aber doch Mühe, die Gaffer zurückzudrängen.
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