Das Multiversum 1 Zeit
»haben wir keine Milliarden Jahre mehr.
Nur noch ein paar Jahrhunderte.«
Cornelius beobachtete Malenfant, offensichtlich in Erwartung einer Reaktion. »Auslöschung ist Auslöschung; wenn die Zukunft einen Endpunkt hat, spielt es dann eine Rolle, wann er kommt?«
»Ja, zum Teufel«, sagte Malenfant. »Ich weiß, dass ich eines Tages sterben werde. Deshalb gehe ich aber nicht her und fordere Sie auf, mir sofort das Hirn rauszuschießen.«
Cornelius lächelte. »Exakt unsre Philosophie, Malenfant. Das Spiel an sich ist des Spielens wert.«
Emma sah, dass Cornelius sich als Etappensieger in der Diskussion fühlte. Und allmählich, Schritt für Schritt, zog er Malenfant auf seine Seite.
Sie saß ungeduldig da und wünschte sich, sie wäre nicht hier.
Sie ließ den Blick durch den kleinen, eichegetäfelten Konferenzraum schweifen. Er roch nach gepflegtem Leder und frisch gerei-66
nigten Teppichen: Das stilsicher komponierte Interieur spiegelte den Reichtum des Unternehmens und wirkte doch anonym. Das einzige greifbare Indiz für exorbitanten Reichtum und Macht war der beneidenswerte Ausblick – aus einem versiegelten, getönten Fenster – auf den Central Park. Sie waren so hoch, dass sie sogar die UV-Kuppel des Parks überragten. Sie sah Spaziergänger im Park flanieren, Kinder im saftigen grünen Gras spielen und die glitzernden Reflexe der allgegenwärtigen Polizeidrohnen.
Emma wusste nicht, was sie von Eschatology überhaupt erwartet hatte. Etwa einen Wohnwagen in Nevada, dessen Wände mit Aus-schnitten aus Boulevardzeitungen tapeziert waren und dessen In-nenraum mit Kameras und Abhörgeräten voll gestopft war. Oder vielleicht auch das genaue Gegenteil: eine hypermoderne Einrichtung mit einem aus dem Orbit abgestrahlten riesigen, virtuellen Portrait des Obergurus der Organisation, der die obligatorische weiße Katze streichelte.
Dieses Büro hier im Herzen von Manhattan entsprach ganz und gar nicht diesem Klischee. Es wirkte völlig normal. Wodurch es umso unheimlicher anmutete.
»Und nun wüsste ich gern, wie Sie darauf kommen, dass wir nur noch zweihundert Jahre haben«, sagte Malenfant.
Cornelius lächelte. »Wir spielen ein Spiel.«
Malenfant schaute finster.
Cornelius griff unter den Tisch und brachte einen versiegelten Holzkasten zum Vorschein. Er hatte einen trichterförmigen Aus-lass mit einem hölzernen Hebel an der Seite. »In diesem Kasten befinden sich eine Anzahl Kugeln. Auf einer von ihnen steht Ihr Name, Malenfant; die übrigen sind unbeschriftet. Wenn Sie den Hebel ziehen, rollt jeweils eine Kugel heraus, die Sie inspizieren können. Die Freigabe erfolgt nach dem Zufallsprinzip.
Ich werde Ihnen nicht sagen, wie viele Kugeln im Kasten enthalten sind. Ich gebe Ihnen auch keine Gelegenheit, den Kasten über 67
die Betätigung des Hebels hinaus zu untersuchen. Aber ich garantiere Ihnen, dass sich entweder zehn Kugeln darin befinden – oder tausend. Würden Sie nun auf die richtige Zahl wetten wollen?«
»Nein.«
»Sehr weise. Bitte ziehen Sie am Hebel.«
Malenfant trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. Dann be-tätigte er den Hebel.
Eine kleine schwarze Murmel kullerte aus der Öffnung. Malenfant inspizierte sie; sie war nicht beschriftet. Emma sah, dass tausende solcher Kugeln im Kasten Platz gefunden hätten.
Mit finsterem Blick betätigte Malenfant erneut den Hebel.
Auf der dritten Kugel, die er zutage beförderte, stand sein Name.
»Es sind zehn Kugeln im Kasten«, sagte Malenfant spontan.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Wenn tausend darin wären, wäre die Kugel mit meinem Namen drauf wahrscheinlich nicht so schnell aufgetaucht.«
Cornelius nickte. »Sie haben eine gute Intuition. Dies ist ein Beispiel für Bayes' Regel, eine Technik für die Ermittlung von Wahrscheinlichkeiten für die Berechnung von Hypothesen mit eingeschränkten Informationen. Tatsächlich …« – er hielt inne und rechnete nach – »beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass Sie Recht haben, zwei Drittel – und zwar auf der Grundlage, dass ihre Kugel als dritte ausgestoßen wurde.«
Emma versuchte das nachzuvollziehen. Wie bei den meisten Wahrscheinlichkeits-Problemen war die Antwort jedoch kontra-intuitiv.
»Worauf wollen Sie eigentlich hinaus, Cornelius?«
»Denken wir mal an die Zukunft.« Cornelius tippte auf die Softscreen, die vor ihm in die Tischplatte eingelassen war. Der kleine Monitor vor Emma leuchtete auf, und eine schematische Kurve zog sich über den Bildschirm. Sie identifizierte es
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