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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Bahr
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begonnen als Instrument gemeinsamer Kontrolle über Deutschland, hatte aus den Markierungen der Sektoren eine Grenze zwischen zwei Systemen gemacht. Politisch und militärisch standen sich dort NATO und Warschauer Pakt gegenüber. Ihre Gesetze begannen zu wirken und machten die Sieger zu Gefangenen ihrer Interessen. Berlin war zu einer Last für beide Seiten geworden. Keine konnte sich erlauben, sie abzuwerfen, aber beide konnten versuchen, sie zu neutralisieren. Mit ihrem Prestige beladen, konnten beide Seiten lediglich versuchen, Berlin zu einem Ort verlässlicher, gemeinsam garantierter Stabilität zu entwickeln.
    Der Mauerbau wurde zum Höhepunkt des Kalten Krieges und zum Anfang seines Endes. Letzteres war damals nicht absehbar. Wie sollte man verstehen, dass am 14. August 1961 alle Straßen von West- nach Ostberlin mit Stacheldrahthindernissen gesperrt wurden und gleichzeitig die Anordnung des Innenministers der DDR erging, die Angehörigen der drei Westmächte dürften nur drei Übergänge benutzen, was bald auf den Checkpoint Charlie in der Friedrichstraße reduziert wurde? Vor allem: Die drei Westmächte befolgten die Weisung eines Ministers, der ihnen gar nichts zu sagen hatte, und eines Staates, den es angeblich gar nicht gab.
    Erinnerungen an die NATO-Sitzung in Oslo und das sowjetische Memorandum, das Bruno Kreisky mich hatte lesen lassen, tauchten auf und weckten den Argwohn, ob das Ganze im stillen west-östlichen Einverständnis vorbereitet worden sei. Nachdem Chruschtschow und Kennedy ohne Ergebnis in Wien aneinander Maß genommen hatten, war John McCloy, früherer US-Hochkommissar in der Bundesrepublik, auf die Krim geflogen und hatte mit Chruschtschow Tennis gespielt. Ob sie auch miteinander gesprochen hatten, um zu sondieren, wie der Streitpunkt Berlin friedlich zu regeln sei? Verbindliche Vereinbarungen konnten die beiden nicht abschließen. Aber der Osten wartete nach dem 13. August drei Tage lang auf Reaktionen des Westens, bevor er den Stacheldraht durch Steine und Beton ersetzte und mit dem Bau der Mauer begann. Es war kein Risiko mehr.
    Wann hatte Kennedy gelernt, dass Berlin, militärisch der schwächste Punkt des Westens, nicht zu verteidigen war, aber auch nicht ständig politischen Erpressungen auf den Zugangswegen ausgesetzt sein durfte? Die Überlegung musste naheliegen, dass es eine Entspannungspolitik mit Moskau nicht geben konnte, solange die Achillesferse in Berlin existierte. Umgekehrt konnte die amerikanische Historikerin Hope Harrison 2003, nachdem sie Einsicht in Moskauer Archive erhalten hatte, dokumentieren, dass Chruschtschow Ulbricht getäuscht hatte. Er hatte ihn listig mit der Aussicht auf einen separaten Friedensvertrag vertröstet, während er sein Hauptziel verfolgte, mit der anderen Supermacht Stabilität zu erreichen. Und Kennedy verkündete seinen Erfolg, die unantastbare Sicherheit Westberlins, erst 1963 mit seinem Ausruf »Ich bin ein Berliner«.
    Danach gab es keine Krise mehr in Berlin, bis die Mauer fiel. Es gab auch keine Deutschlandkrise mehr. Versuche, die deutsche Teilung zu erleichtern oder gar zu überwinden, fanden zwischen Washington und Moskau nicht statt. Der Status quo in Europa funktionierte und überlebte sogar die Kuba-Krise; er überlebte sich erst durch die deutsche Wiedervereinigung und das Ende der Sowjetunion. Ich kenne keine ungeschriebene Vereinbarung in der Geschichte, die so verlässlich fast dreißig Jahre lang funktioniert hat. Diese Dimension konnte in keiner Hauptstadt gedacht werden.
    *
    Präsident Kennedy war zunächst ungehalten, wenn nicht verärgert über Brandts Brief gewesen, hatte aber schnell reagiert und eine Kampfgruppe von 1500 Mann zur Verstärkung der Berliner Garnison in Marsch gesetzt. Für ihren Empfang hatte er seinen Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson und den Helden der Luftbrücke, General Lucius D. Clay, nach Berlin geschickt, und die Berliner jubelten den Amerikanern zu, als kehrten eigene Soldaten aus einem siegreichen Krieg zurück.
    Johnson genoss die sicht- und hörbare Aufhellung der Stimmung. Im Schöneberger Rathaus hatte er die Slipper von Brandt bewundert. Wer Aktionen fordert, sollte selbst auch dazu bereit sein. Also besorgte das Protokoll am Sonnabend aus einem schon geschlossenen Geschäft Slipper. Beim Probieren stellte sich heraus, dass er zwei unterschiedliche Größen brauchte – auch das wurde erledigt.
    Den Antwortbrief Kennedys, den Johnson überbracht hatte, lasen wir erst nach seinem

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