»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
werden konnte, verbarg sich noch hinter dem Horizont. Wiederum neunzehn Jahre später, 1990, waren die Vier Mächte zu Notaren geworden, die nicht mehr anders konnten als die Realitäten zu unterzeichnen, die durch den Sturm auf die Mauer entstanden waren.
Die Rückschau bestätigt den Mauerbau als Wendepunkt der deutschen Nachkriegsgeschichte. Er löste die deutsche Entspannungspolitik aus, durch die aus den beiden deutschen Objekten der vier Siegermächte ein souveränes Subjekt in der Mitte Europas wurde. Ohne diese Politik wäre die Einheit jedenfalls so nicht erreicht worden.
Neue Ziele
Zu einem wichtigen programmatischen Markstein wurde im Juli 1963 die Tutzinger Tagung. Im Hinblick darauf, dass er zwei Jahre später zum Kanzler gewählt werden könnte, hatte der Politische Club der Evangelischen Akademie Tutzing Brandt gebeten, seine Vorstellungen zur Außen- und Sicherheitspolitik darzulegen. An dem Manuskript haben wir mit großer Sorgfalt gearbeitet, es ging mehrfach hin und her. Währenddessen rief mich der Direktor der Akademie, Roland-Friedrich Messner, an und bat mich, einen Diskussionsbeitrag vorzubereiten. Ich zögerte, weil mein Kopf inzwischen leer war. Nach langem Zureden entschloss ich mich, einen Punkt aus der Brandt-Rede zu nehmen und an ihm zu exemplifizieren, was unsere außenpolitischen Konzepte für das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten bedeuteten. Nach dieser Idee konnte ich das Manuskript in eineinhalb Stunden herunterdiktieren und meinem Vertreter im Amt geben, der das im Text enthaltene Schlagwort »Wandel durch Annäherung« als Titel darübersetzte. Auf dem Weg nach München gab ich das Manuskript Brandt. Er las es, brummte, gab es zurück und sagte »Okay«.
Wir waren beide überrascht, dass mein kleiner Diskussionsbeitrag wie eine politische Bombe einschlug und, zum unverhohlenen Missfallen Brandts, seine große Rede nicht die gebührende Beachtung fand. Aus dem Diskussionsbeitrag, der auch in der eigenen Partei heftigen Widerspruch fand – Herbert Wehner sprach von »bahrem Unsinn« –, wurde wenige Jahre später die Entspannungspolitik in Bonn.
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Dem SPD-Kanzlerkandidaten fehlte eine Begegnung mit unserem Nachbarkontinent Afrika. Ich hatte die ehemaligen französischen Kolonien in West- und Zentralafrika besucht und dann 1959 in Ghana als Beauftragter der Bundesregierung gearbeitet. Es kostete mich viel Mühe, den Chef für eine Reise zu gewinnen, die wir im Herbst 1963 endlich antraten. Schon die erste Station Kairo brachte uns die eindrucksvolle Begegnung mit Gamal Abdel Nasser, der uns leise und eindringlich seine deprimierende Perspektive darlegte: Wenn der Assuan-Damm vollendet und nach zehn Jahren der See gestaut sei, würde die Anbaufläche für Baumwolle zwar verdoppelt. Aber die Bevölkerung sei bis dahin noch schneller gewachsen. Die Armut würde zunehmen.
Seine Majestät Haile Selassie von Äthiopien erklärte, dass nicht mehr junge Leute in Europa studieren dürften, als das Land benötige. Eine Universität schaffe nur eine Masse unruhiger, beschäftigungsloser junger Menschen. Julius Nyerere beschwor uns in Daressalam, sein Land brauche keine Landwirtschaftshilfe aus der Bundesrepublik, sondern die nötige Technik, um die totale Energieabhängigkeit Tansanias zu verringern. Die gerade erst selbständig gewordenen, aber von internationalen Konzernen abhängigen Staaten wie Nigeria und Algerien brachten dem Freund neue Einsichten.
Zurück in Berlin trafen wir uns in Brandts Haus am Schlachtensee mit seinem Statthalter Heinrich Albertz, der berichtete, was sich »im Städtchen« inzwischen zugetragen hatte. Ans Telefon gerufen, erhielt ich die Mitteilung, auf Kennedy sei ein Anschlag verübt worden. Wenig später kam die Schocknachricht von seinem Tod. Die harten Realitäten gestatteten keine Hingabe an die Trauer. Erklärungen, Beflaggung, Interviews und Überlegungen zur Teilnahme an der Beisetzung standen an. Inzwischen hatten die Berliner wie beim Tod Ernst Reuters Kerzen in die Fenster gestellt. Sie trauerten um den Mann, der ihre Sicherheit garantiert hatte. Diesen 22. November 1963 haben viele Menschen auf der Welt nicht vergessen.
Anfang 1964 folgte Brandt dem verstorbenen Erich Ollenhauer an der Spitze der SPD nach. Im folgenden Jahr bewarb er sich zum zweiten Mal um das Amt des Bundeskanzlers. Wieder holte er für seine Partei ein Rekordergebnis, unterlag aber Ludwig Erhard.
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Nach der wiederum verlorenen
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