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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Bahr
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sein. Nur privat hatte Brandt den Kopf geschüttelt, dass die junge Bundesrepublik nicht die Emigranten zurückgerufen hatte, was er unverständlich und, schlimmer noch, als Fehler empfand, den Ostberlin nicht gemacht hatte. Nachdem die Nazis ihn schändlich der Staatsbürgerschaft beraubt, der Zugehörigkeit zu seinem Land enteignet hatten, musste er seine Einbürgerung beantragen. Die bürokratisch notwendige Prozedur stand in einem verstörenden Gegensatz zu der natürlichen Erwartung, willkommen zu sein. Was würde er tun müssen, um angenommen zu werden und sich aufgenommen zu fühlen?
    Was wir nicht wussten: Während Brandt in Berlin darum kämpfte, unkontrollierte Zusammenstöße und Blutvergießen zu verhindern, hatte Adenauer den sowjetischen Botschafter einbestellt und ihm versichert, Bonn denke nicht daran, die Lage zu verschärfen. In undiplomatischer Sprache hieß das, Moskau solle den krakeelenden Bürgermeister in Berlin nicht ernst nehmen.
    Ein zorniger Brandt konnte Furcht lehren: Jeden Rat, die Schändlichkeiten abtropfen zu lassen, wies er brüsk ab. Doch einen wirksamen Gegenangriff gab es nicht, und eine bloße Verteidigung wäre würdelos gewesen. Franz Josef Strauß hatte, ebenfalls im Wahlkampf, tückisch und scheinheilig erklärt, er wisse, was er im Krieg gemacht habe (wusste er das wirklich?); man würde doch wohl noch fragen dürfen, was Brandt gemacht habe. Tage wurden verdorben und viele Stunden gingen verloren durch Diskussionen, wie juristisch gegen derartige Verdächtigungen und Verleumdungen vorzugehen sei. Über hundert gewonnene Prozesse nutzten wenig. Die Heckenschützen blieben tätig und bestätigten die Wahrheit des lateinischen Spruches: Semper aliquid haeret. Aber es deprimiert, wenn immer etwas hängen bleibt. Nach dem erfolgreichen, aber gemessen an den Erwartungen verlorenen Wahlkampf 1965 überlegte Brandt ernstlich mit seiner Frau Rut, wieder nach Norwegen zu gehen.
    Wer die Persönlichkeit Willy Brandts verstehen will, darf die bleibende Wunde nicht übersehen, selbst wenn sie verheilt schien, die ihm das Wort Adenauers und die folgenden jahrzehntelangen Kampagnen gegen seine Vergangenheit zugefügt hatten. Er war kein robuster Typ, der die Tiefschläge des politischen Alltags und die offenen oder versteckten Hasskampagnen ungerührt wegsteckte. Auch die Schmähungen gegen seine Toleranz bei der Erziehung der Söhne trafen ihn. Er verbarg seine Schwächen nicht. Gerade das machte ihn menschlich. Und gerade das ließ ihn für viele Menschen anziehend und populär werden. Seine Verletzlichkeit wurde seine Stärke.
    Die Narben taten nicht mehr weh, als wir uns das letzte Mal sahen. Dieser Kampf war zu Ende. Dem toten Bundeskanzler, einem im besten Sinne zivilen Menschen, wurde durch einen Staatsakt mit militärischen Ehren im Berliner Reichstag die höchste Ehrung zuteil, die das Land zu vergeben hat – Symbol für seine Annahme im eigenen Land, für etwas, das er sich lange vergeblich gewünscht hatte: die Heimkehr.
    Die zementierte Teilung
    Im August 1945 hatte ich gerade die amerikanischen Grundregeln für eine Nachrichtenmeldung gelernt: Wann, wer, wie, wo und was müssten möglichst im ersten Satz beantwortet werden. Zur selben Zeit hatte ich gelesen, dass die Sieger in Potsdam geheim zusammengekommen waren und ein Abkommen über Deutschland geschlossen hatten. Dass weder unsere amerikanischen Redakteurskollegen noch die besiegten Deutschen darüber informiert worden waren, verwunderte nicht. Ich spürte eine große Erleichterung: Deutschland blieb ungeteilt. Wir durften sogar die Industrie wieder aufbauen, natürlich keine Waffen produzieren, was ohnehin niemand wollte, und verloren – schmerzlich, aber verständlich – Gebiete jenseits der Oder. Die Verwaltung erfolgte in vier Zonen und Berlin, dem einzigen Gebiet unter der gemeinsamen Verantwortung der Vier Mächte. Sie wussten noch nicht, welches Gewicht sie sich damit an den Hals hängten.
    Niemand konnte ahnen, dass die im Krieg gegen das Reich Verbündeten in den folgenden vier Jahren zu Gegnern eines Kalten Krieges werden und zwei deutsche Staaten gründen lassen würden. Niemand konnte voraussehen, dass in derselben kurzen Zeitspanne die Hauptstadt geteilt und zum Objekt gegenseitiger Bedrohung und Erpressung werden würde, mit dem gefährlichen Höhepunkt der Konfrontation gefechtsbereiter amerikanischer und sowjetischer Panzer in der Berliner Friedrichstraße Ende Oktober 1961. Der Vier-Mächte-Status,

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