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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Bahr
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Bundestagswahl 1965 und der Blockierung der deutschen Frage durch die Mauer schien es mir nützlich, das Konzept einer zukünftigen Ost- und Deutschlandpolitik auszuarbeiten unter der naheliegenden Überschrift »Was nun?«. Das Manuskript umfasste 180 Seiten und wurde Ende März 1966 fertig. Ich übergab es Willy Brandt, der darauf schon am 6. April ausführlich reagierte.
    Es stellte die Fortsetzung meiner Zehlendorfer Rede dar und schlug die ausdrückliche Umkehr der bisherigen Bonner Politik vor, also erst Entspannung und dann Einheit. Dafür arbeitete ich als Schlüssel zur Lösung der Deutschen Frage ein europäisches Sicherheitssystem aus, das Sicherheit für Deutschland mit Sicherheit vor Deutschland verband, auf der Grundlage einer stabilen Abschreckung durch die beiden Supermächte. Der Prozess sollte mit einer Vereinbarung über das geregelte Nebeneinander der beiden deutschen Staaten beginnen und Moskau auf dem gesamten Weg einbeziehen. Die angestrebte Transformation dürfe nicht – wie 1953 in der DDR und 1956 in Polen und Ungarn – in Gewalt umschlagen. 1989 haben alle vier Mächte nach der Erstürmung der Mauer die deutsche Politik gewarnt: »Das darf nicht außer Kontrolle geraten.« 1966 konnte keine Regierung die Auflösung der Sowjetunion vorhersehen. Eine Art von Liberalisierung wurde für möglich gehalten, aber nicht das Ende des Imperiums.
    Willy Brandt reagierte auf das unerwartete Manuskript schnell, klar und mit großem Einfühlungsvermögen in die Seele des Verfassers: »Der Berliner Pressechef und enge Mitarbeiter des SPD-Vorsitzenden kann die Schrift so nicht veröffentlichen.« Er regte an, das Manuskript »zum Inhalt einer zunächst internen Denkschrift für die Führung der Partei« zu machen. Die Reaktionen auf meinen Diskussionsbeitrag in Tutzing waren noch ziemlich präsent. Ein ganzes Buch mit einem Inhalt, der aufgeregte Auseinandersetzungen auslösen würde, konnte nicht im Interesse des Chefs sein. Er empfahl eine »kleine Arbeitsgruppe«, um dann eventuell im Herbst »eine stark überarbeitete Fassung« veröffentlichen zu können, und schlug vor, das europäische Sicherheitssystem und die Sicherheitsvorkehrungen für das vereinte Deutschland mit Helmut Schmidt durchzusprechen. Seine Bedenken verstand ich als sublime Form der Ablehnung. Sie galten dem Stufenmodell, das, wie er erklärte, »auf mich aus der Sicht der praktischen Politik unwirklich wirkt«.
    In dem vorgesehenen Text hatte ich formuliert, dass »der Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, mit diesem Buch nichts anderes zu tun hat, als dass er Mitarbeitern gestattet, eigene Gedanken zu haben und sie zu äußern«. Dazu wies er mich, handgeschrieben und schonungsvoll ausführlich, auf eine Szene hin, die Kennedys Rechtsberater Ted Sorensen in seiner Biographie des Präsidenten geschildert hatte: »Im Dezember 1960 ging ich mit Kennedy eine Reihe von Einladungen durch, die man mir zugeschickt hatte. Ich sollte Vorträge halten; außerdem wollten mehrere Zeitschriften Beiträge über meine Person bringen. ›Lassen Sie sie alle zurückgehen‹, sagte er, und ich folgte seinem Rat. … ›Wenn man sich aus allen Scherereien heraushalten will, ist es am besten, im Hintergrund zu bleiben.‹«
    Wie oft hatte der Chef früher als ich etwas gelesen (wann eigentlich?), was wichtig oder auch schön, sogar pikant war. Oft riet er mir: »Das brauchst du nicht zu lesen.« Über literarische Neuerscheinungen war er gut informiert. Nun ging ich also zu ihm, um ihm mitzuteilen, dass ich die Frage »Was nun?« damit beantworte, das Buch ungedruckt zu lassen. Ohne große Reaktion machte er mich mit einem ganz anderen Thema bekannt. Es sei denkbar, dass im Herbst eine Große Koalition gebildet würde, was bei ihm keine Begeisterungsstürme hervorrufe. Meine Phantasie reichte für die Vorstellung, unter diesen Umständen hätte das Buch wie eine Bombe gewirkt.
    Dennoch habe ich die Arbeit nicht bereut. Vor allem: Brandt hatte das Manuskript gelesen und verstanden. Wir brauchten darüber nicht mehr zu sprechen. Es enthielt zentrale Themen unserer Politik der folgenden Jahre. Dass ich den mir wichtigen Text im Schreibtisch verschloss, hat Brandt Ärger erspart. Er wusste, dass er sich auf meine freundschaftliche Loyalität verlassen konnte. Der Berater war zum Freund geworden.

TEIL 2 – BONN
    Die Große Koalition – ungeliebt
und unentbehrlich
    Brandt litt zunächst an den Diffamierungen des Wahlkampfes und an der

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