»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
Abflug. Die Antwort des Präsidenten war ernüchternd: Die Mauer sei nur durch Krieg zu beseitigen, doch »weder Sie noch irgendeiner unserer Verbündeten haben jemals überlegt, an diesem Punkt Krieg zu führen«. Dass die Mauer eine Niederlage Chruschtschows sei, weil er sie nicht gebaut hätte, wenn er noch die Absicht haben würde, ganz Berlin zu besetzen, empfanden wir als Augenwischerei, ohne die Weitsicht Kennedys zu verstehen.
Nun wussten wir: Die Teilung würde lange dauern. Dies auszusprechen verbot sich, um die Menschen nicht noch mehr zu entmutigen. Zunächst war das nur bitter. Unsere Studenten wollten dem Beispiel ihrer algerischen Kommilitonen folgen und mit Plastiksprengstoff die Mauer schneller in die Luft jagen, als sie wieder aufgebaut werden konnte. Der Senat musste die eigene Polizei zum Schutz der Mauer einsetzen. Unsere Polizisten durften Flüchtlingen keinen Feuerschutz geben, obwohl sie nach unserem Verständnis im Recht waren, wenn sie fliehen wollten; sie durften auch nicht auf die NVA-Leute schießen, die nach unserem Verständnis zu Unrecht Waffen und Uniformen trugen. Und unsere Staatsanwaltschaft erhob keine Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung, weil Frieden im eigenen Interesse lag. Der Status quo durfte nicht gefährdet werden.
Was im Senat erkannt, aber nicht ausgesprochen wurde, offenbarte sich ein Jahr später, als der Flüchtling Peter Fechter angeschossen auf den Boden des Ostsektors zurückfiel und fünfzig Minuten lang schreiend mit dem Tod kämpfte, bis er starb. Die Westberliner forderten den dabeistehenden amerikanischen Offizier auf, ihm zu helfen, weil ihn seine Uniform schütze. Sie erhielten brutal und korrekt den Bescheid: Meine Kompetenzen sind an der Sektorengrenze zu Ende. Damit wurde die Realität hinter dem Vier-Mächte-Schleier enthüllt, was die ersten antiamerikanischen Kundgebungen nach dem Krieg auslöste. Als sich amerikanische und sowjetische Panzer am Checkpoint Charlie auf weniger als 200 Meter gegenüberstanden, bemerkte Brandt im Rathaus, wenn die Elefanten tanzten, gingen die Mäuse besser zur Seite.
Der Besuch Kennedys am 26. Juni 1963 in Berlin wurde von seinem Pressesprecher Pierre Salinger vorbereitet. Ich lernte: Winkel und Entfernung der Kameras zum Redner sind wichtiger als die Zuhörer, denn das Fernsehen erreicht mehr Zuschauer.
Nach einer rauschenden Stadtrundfahrt »besichtigte« der Präsident zunächst die Toilette des Regierenden, bevor er in dessen Büro mit dem Dolmetscher auf und ab lief und leise seine Rede einübte. Niemand auf unserer Seite wusste, was er sagen würde. An Brandts Schreibtisch saß Adenauer und las das Neue Deutschland . Niemals war der Platz vor dem Rathaus so überfüllt. Als Kennedy seinen berühmten Satz ausrief, der die Stadt unangreifbar machte, freute sich Adenauer, und Brandt blieb säuerlich ernst. »Ich bin ein Berliner« passte genau zur Stimmung. Am Nachmittag in der Freien Universität sprach der Präsident über Entspannung und Zusammenarbeit mit der Sowjetunion. Nun freute sich Brandt, während das Gesicht Adenauers erstarrte.
Trotz der Begeisterung für Kennedy war klar: Niemand würde helfen, das Monstrum der Mauer zu beseitigen. In dieser Notlage keimte der Gedanke, wenigstens einigen Menschen zu ermöglichen, ihre Angehörigen »drüben« zu besuchen, auch wenn es nur für Stunden wäre. Gegen menschliche Erleichterungen hatte keine der Vier Mächte etwas. Auch nicht als sie feststellten, dass vorher das Tabu direkter Verhandlungen zwischen dem Senat und Ostberlin gebrochen werden musste. Sie hatten die Festigung des Status quo ja schon vorher ungeschrieben vollzogen. Wichtig war ihnen nur, dass ihre unkündbaren Siegerrechte unangetastet blieben. Sie zu respektieren war der einzige Weg, unsere eigenen Interessen zu verfolgen. So harmlos fing es mit den Passierscheinen an, die den Westberlinern zu Weihnachten 1963 erstmals wieder einen Besuch ihrer Verwandten im Ostteil der Stadt ermöglichten.
Am 18. Dezember 1963 feierte Willy Brandt seinen fünfzigsten Geburtstag. Es war der erste Tag, an dem Passierscheine ausgegeben wurden. Er bekam ein Ständchen und fand: »Das ist einer der schönsten Tage in meinem Leben. Diese Weihnachtswochen werden dokumentieren, dass wir ein Volk und eine Nation sind.«
Dass acht Jahre später, 1971, das sogenannte Vier-Mächte-Abkommen in einer ganz Deutschland betreffenden Frage nicht mehr ohne die Mitwirkung der beiden deutschen Regierungen entschieden
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