»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
verlorenen Bundestagswahl 1965. Doch auf dem Parteitag im Juni 1966 wurde er als Parteivorsitzender glänzend bestätigt. 324 von 326 Delegierten stimmten für ihn.
Nachdem sich die von Kanzler Erhard geführte Bundesregierung nicht auf eine von der CDU/CSU geplante Steuererhöhung hatte einigen können, traten die FDP-Minister am 27. Oktober 1966 zurück. Noch am selben Tag listete ich für Brandt in einer ausführlichen Analyse unsere Optionen auf. Ein Zusammengehen mit der Union habe den Geschmack von »widernatürlicher Unzucht«, die FDP sei als Partner unbedingt vorzuziehen. Aber: »Wenn es wegen der FDP mit der FDP nicht klappt, muss die Möglichkeit einer Großen Koalition noch einmal ernsthaft durchdacht werden … Es könnte die einzige Chance sein, in diesem Volk wirklich akzeptabel zu werden.« Bei allen Risiken: »Auf keinen Fall darf die SPD draußen bleiben.«
Während sich die Sozialdemokraten mit Herbert Wehner und Helmut Schmidt und die CDU/CSU mit Kurt Georg Kiesinger und Rainer Barzel schon zur großen Karawane formierten, fand hinter den Kulissen eine zukunftsträchtige Kontaktaufnahme statt. Brandt schickte mich nach Bonn, um mit Hans-Dietrich Genscher, damals Fraktionsgeschäftsführer der FDP im Bundestag, die Möglichkeiten einer Koalition zu sondieren. Das Gespräch fand in seinem Büro statt. Er war entschieden dafür, trotz der relativ knappen Mehrheit. Aber Genschers Parteifreunde Walter Scheel und William Borm warnten, die Geschlossenheit der liberalen Fraktion sei nicht gesichert. Also wurde der Versuch beerdigt, und ich entwarf einen Brief an Scheel, in dem der Chef bedauerte, dass es nicht zu einem Bündnis gekommen war: »Das sollte uns nicht abhalten, in Verbindung zu bleiben … Ich hoffe sehr, dass wir uns das erhalten können.« Es dauerte dann bis zum Dezember 1966, ehe die neue Regierung vereidigt wurde. Mit ihr erreichte Herbert Wehner sein erstrebtes Ziel.
Die Große Koalition war Brandt zuwider. Am liebsten wäre er Parteivorsitzender geblieben. Doch ein Parteivorsitzender außerhalb des Kabinetts oder ein Vizekanzler mit unbedeutendem Ressort widersprachen nicht nur seinem Stolz, sondern auch seinem Machtbewusstsein und letztlich dem Reiz des Auswärtigen Amtes.
Die Diffamierungskampagnen der zurückliegenden Jahre hatten sich ihm tief in die Seele gegraben. Mit der bald verbreiteten Bezeichnung einer »Bundesregierung der Versöhnung« musste er sich erst versöhnen. Er kannte die gegenläufigen Biographien der Regierungsmitglieder: Neben dem Emigranten und früheren Linkssozialisten Brandt saß Kiesinger, der genauso wie der SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller Mitglied der NSDAP gewesen war. Während der Exkommunist Wehner, nun Minister für gesamtdeutsche Fragen, das Moskauer Hotel Lux überlebt hatte, war Finanzminister Franz Josef Strauß Wehrmachtsoffizier gewesen.
Für Strauß empfand Brandt Achtung. Er fand, dass der Bayer mit seinen Fähigkeiten und seiner Energie das Zeug zum Kanzler hatte, auch wenn er sich mit seiner Unbeherrschtheit selbst im Weg stand. Ich verglich den CSU-Mann mit einem Kraftwerk, das über die Sicherungen eines Kuhstalls verfügt.
Kiesinger hingegen, intern »König Silberzunge« genannt, schätzte Brandt als Leichtgewicht ein. Er fühlte sich in dessen Gegenwart nicht wohl und überließ Wehner gern die Kommunikation mit dem Regierungschef. Die Fraktionsvorsitzenden Helmut Schmidt und Rainer Barzel, zwei vorzügliche Manager, sorgten im Parlament für einen störungsfreien Ablauf.
Im Auswärtigen Amt
Der Unterschied zwischen der Senatskanzlei im Schöneberger Rathaus mit einem Dutzend höherer Beamter und drei Verbindungsoffizieren zu den Alliierten einerseits und dem Apparat des Auswärtigen Amtes andererseits kann mit dem zwischen einem gut verwalteten Handwerksbetrieb und einem internationalen Konzern verglichen werden, oder mit dem zwischen dem Berliner Polizeipräsidenten und dem Verteidigungsminister in Bonn. Die Bundesebene verlangte andere Qualitäten, und das Maß der täglichen Informationen und Aktionen stellte selbst für den Regierenden Bürgermeister von Berlin eine neue Dimension dar. Einen direkten Sprung vom Schöneberger Rathaus ins Kanzleramt hätte Brandt nicht geschafft.
In einem Vermerk für den neuen Außenminister Brandt formulierte ich noch in gewohnter Berliner Manier überdeutlich: Das Wichtigste sei, die Behauptung Adenauers zu widerlegen, Sozialdemokraten in der Regierung wären der Untergang
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