»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
wieder. Unsere zufällige Bekanntschaft stammte aus dem Zug, in dem wir anlässlich der Verhandlungen zum Schuman-Plan 1950 nach Paris gefahren waren. Er fand es unmöglich, dass unsere Delegation durch »einen ganz unbekannten Professor namens Hallstein« geleitet werden sollte. Nach den Kriterien, die Joschka Fischer als Außenminister anordnete, erhielten ehemalige Mitglieder der NSDAP keinen ehrenden Nachruf mehr in der Mitarbeiterzeitschrift des Amtes. Als einen der Ersten traf es Franz Krapf. Der Siebenundzwanzigjährige hatte 1938 im Auswärtigen Amt seinen Dienst angetreten und war von 1940 bis 1945 an der Botschaft in Tokio tätig gewesen. In einem Entnazifizierungsverfahren 1948 als »entlastet« eingestuft, kehrte er 1951 in das neugegründete Auswärtige Amt zurück und wurde unbeanstandet in Paris und Washington verwendet, bis er 1966 zum Botschafter in Tokio und 1971 zum Leiter unserer NATO-Vertretung in Brüssel aufstieg.
Nachdem Heinrich Albertz wegen des Todesschusses auf Benno Ohnesorg als Regierender Bürgermeister zurückgetreten war, musste Brandt Klaus Schütz gewissermaßen nach Berlin dienstverpflichten. Zum neuen Staatssekretär wurde Georg Ferdinand Duckwitz ernannt. Dieser Mann des alten Amtes, seit 1932 Mitglied der NSDAP, hatte 1943 in Kopenhagen an unserer Gesandtschaft von der bevorstehenden Deportation der Juden erfahren und Hans Hedtoft informiert, nach dem Krieg dänischer Ministerpräsident. Fast alle Juden konnten mit Fischerbooten nach Schweden gebracht und gerettet werden. Duckwitz war 1950 wieder in den diplomatischen Dienst aufgenommen worden. Es überrascht nicht, dass er nach dem Krieg ein willkommener und geachteter Botschafter der Bundesrepublik in Kopenhagen wurde.
Dem alten Amt hatte auch Hans von Herwarth gedient. Er war bis 1939 an der deutschen Botschaft in Moskau tätig gewesen, und nur eine jüdische Großmutter hatte ihn vor der Mitgliedschaft in der NSDAP bewahrt. Mit der Gründung des neuen Amtes wurde er Chef des Protokolls, dann Botschafter in London und Chef des Bundespräsidialamtes. Brandt holte ihn aus dem Ruhestand und gab ihm den Auftrag, eine Reform des Auswärtigen Amtes vorzubereiten. Das stieß auf den Widerstand vieler Ressorts, die besonders über die europäische Behörde in Brüssel zunehmend Geschmack an der Außenpolitik gefunden hatten, an der sie sich wenigstens beteiligen, am besten über sie mitbestimmen wollten. Kiesinger, seinem Ruf als »wandelnder Vermittlungsausschuss« getreu, stellte es dennoch dem Außenminister anheim, seine Reformkommission einzusetzen. Ihr Schlussbericht wurde 1971 vorgelegt, das Gesetz darüber mit den Stimmen aller Fraktionen schließlich 1990 verabschiedet. Brandt konnte die Geburt seines 1968 »gezeugten Kindes« noch zwei Jahre vor seinem Tod erleben.
Der Regierende Bürgermeister hatte sich bei seinen Reisen in die Welt in unseren Vertretungen durchweg tadellos aufgenommen und gut beraten gefühlt, obwohl er fast nie auf Sozialdemokraten gestoßen war. Diese Erfahrung passte zu seiner Grundhaltung: Wer schon im Exil für das bessere Deutschland geworben hatte, konnte nach der Rückkehr nicht Vergeltung oder gar Rache predigen. So sorgte er nach der Entlassung von Albert Speer aus dem Spandauer Gefängnis 1966 dafür, dass er nicht einem Spruchkammerverfahren unterworfen wurde. Die Journalistin Inge Deutschkron gab daraufhin ihr SPD-Parteibuch zurück und beantragte ihre Staatsbürgerschaft in Israel.
Kurz: Brandt wurde zu einem Verfechter der Integration, nicht um die Vergangenheit zu vertuschen oder hinter sich zu lassen, sondern mit dem Blick in die Zukunft unserer Gesellschaft. Als erster Sozialdemokrat, der nach 36 Jahren in eine deutsche Regierung eintrat, bestand er in seiner ersten Personalversammlung auf dem Trennungsstrich zur deutschen Vergangenheit; auch gegenüber der vorherigen Bundesregierung, die immer noch auf der Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen des Jahres 1937 bestanden hatte. Der Krieg könne nicht mit juristischen Formeln nachträglich gewonnen werden. Er erklärte den Willen zum Frieden und zur Völkerverständigung zum ersten und letzten Wort. Er vergaß nicht die Tradition des Amtes, bezog sich auf Rathenau und Stresemann und erwähnte Bismarcks Verurteilung einer Politik des »Alles oder Nichts«.
Die Grundmelodie seiner Linie wurde von den Nachfolgern Scheel, Genscher, Kinkel und Fischer variiert. Fischer nahm insofern eine Sonderposition ein, als er mit dem Mut zur
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