Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Bahr
Vom Netzwerk:
diplomatisch vertreten waren. Wir vereinbarten Generalkonsulate mit diplomatischen Rechten unter praktischer Einbeziehung Berlins. Sie sollten am Außenhandelsministerium und nicht am Außenministerium »aufgehängt« werden, wo wir unsere Visa-Angelegenheiten »in der Praxis« erledigen könnten. Schwejk hätte es nicht besser regeln können. Danach flog ich nach Bukarest und traf dort Brandt, der mit Ceaus¸escu die Aufnahme diplomatischer Beziehungen besiegelte. Anschließend erlebten wir einen pompösen Palast am Schwarzen Meer mit einem ebensolchen Herrscher, der seinen Außenminister wie einen Bediensteten kommandierte.
    Im April 1968 unterrichtete mich der Partner des Vorjahres vom Prager Frühling und von der erstaunlichen Autorität, die Alexander Dubček gewonnen hatte. Wir vereinbarten vertrauliche Besprechungen über das Münchner Abkommen von 1938. Ein zu schließender Vertrag müsse so formuliert werden, dass Tschechen und Deutsche wie auch die heimatvertriebenen Sudetendeutschen zufrieden damit leben, aber keine Ansprüche erheben konnten. Mein wirklich hochgeachteter Partner formulierte zum Abschied in Schwejk’scher Manier: »Der Wolf muss angefüttert, aber die Ziege darf nicht verzehrt werden.«
    Mitte August kam eine kleine tschechoslowakische Delegation nach Bonn. Die Nachrichten aus Prag klangen so bedrohlich, dass ich die Sorge äußerte, ob Dubček die Lage übersehe. Die Erwiderung, sie verstünden die Russen besser als wir, entsprach den raschen Fortschritten unserer Verhandlungen, die den Durchbruch am nächsten Tag erwarten ließen. Es war die Nacht, in der die Warschauer-Pakt-Staaten in die ČSSR einmarschierten. Am nächsten Morgen, dem 21. August, verabschiedete sich die Delegation mit Tränen in den Augen und dankte Brandt für das, was wir hatten tun wollen.
    Bundeskanzler Kiesinger nannte es »ein Glück, dass wir vor einem Jahr mit Prag abgeschlossen haben. Jetzt wäre das für lange Zeit unmöglich.« Außerdem entschied er, die Bundesregierung werde ihre Linie der Entspannung unverändert fortsetzen. Die knifflige Aufgabe, den Pelz zu waschen, ohne ihn nass zu machen, wurde erst fünf Jahre später gelöst, nach dem Moskauer, dem Warschauer und dem Grundlagenvertrag mit der DDR. Das Münchner Abkommen wurde für »nichtig« erklärt, ohne dass daraus tschechoslowakische Rechtsansprüche entstanden.
    Schließlich flog ich ohne jede Öffentlichkeit nach Budapest. Dort traf ich den außenpolitischen Sekretär jener kommunistischen Partei, die 1956 an der Seite der sowjetischen Truppen den Aufstand niedergeschlagen hatte. Sein Name: Gyula Horn. Ich konnte ihm nahebringen, dass Ungarn gerade als das kleinste Land im »sozialistischen Lager« mutiger als andere sein könne. Heute sind wir befreundet. Nach dem Aufstieg zum Außenminister zerschnitt er mit seinem österreichischen Partner Alois Mock im Sommer 1989 den Stacheldraht des »Eisernen Vorhangs«, wurde als mein Nachfolger in den Aufsichtsrat des schwedischen Friedensforschungsinstituts (SIPRI) in Stockholm gewählt und schließlich 1990 mit dem Aachener Karlspreis ausgezeichnet.
    Im Herbst 1968 fand in Genf eine große Konferenz der Nichtkernwaffen-Staaten statt. Brandt wollte der Bundesrepublik mit ihrem bedeutenden Potential der friedlichen Nutzung der Atomtechnik eine strategische Position verschaffen. Das Eintrittsgeld für diese koordinierende Rolle sollte die Ankündigung sein, Bonn würde den Nichtverbreitungsvertrag unterzeichnen, was intern schon beschlossen war. Ich erlebte seine Reaktion, als ihn Kiesinger per Fax anwies, den betreffenden Teil seiner Rede zu streichen. Brandt explodierte: »Wie komme ich dazu, mir von diesem alten Nazi Vorschriften machen zu lassen.« Es bedurfte großer Mühe nicht nur von mir, ihn vom sofortigen Rücktritt abzuhalten. Schließlich akzeptierte er das Argument, die Bevölkerung würde diesen Anlass nicht verstehen, zwölf Monate vor der Bundestagswahl. Aber der Vorfall bestärkte ihn in der grimmigen Entschlossenheit: »Ich werde auch bei nur einer Stimme Mehrheit versuchen, Kanzler zu werden.« Die anfängliche Empfindung, die Große Koalition sei politisch widernatürliche Unzucht, war nicht gelöscht.
    Brandt fieberte dem Ende der Großen Koalition entgegen. Wehner und Schmidt fühlten sich mit ihr deutlich wohler. Noch vierzig Jahre später gibt es Stimmen, die behaupten, dass eine Fortsetzung damals eine Alternative gewesen wäre. Ich sage: Dann hätte es keine

Weitere Kostenlose Bücher