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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Bahr
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Aufarbeitung der Vergangenheit eine Kommission installierte, die durch ihre fünfjährige Tätigkeit nachträglich bewies, wie unmöglich es 1966 gewesen wäre, das undurchsichtige Gestrüpp des Auswärtigen Dienstes im Einzelnen zu durchforsten. Dass es sechzig Jahre lang keinen öffentlichen Druck gab, die Vergangenheit unserer staatlichen Behörden aufzuarbeiten, ist beschämend. Erst seit 2010 wagen sich der BND und einige Ministerien an diese Aufgabe, die immer noch als heißes Eisen empfunden wird.
    Im Planungsstab
    Mein erster Genuss: Ich wurde praktisch der bestinformierte Mensch im Amt. Der Stab erhielt alle Telegramme unserer Vertretungen wie sonst nur der Minister und die Staatssekretäre, die aber keine Zeit hatten, sie zu lesen. Meine Mitarbeiter wählten alle Informationen aus, die ich kennen musste. Und Brandt wusste, dass mein Wissen sein Wissen war. Ich war stolz, dass unser Staat sich einen solchen Apparat leistete und der Luxus, nachdenken zu dürfen, auch noch bezahlt wurde.
    Mein Vorgänger Günter Diehl wechselte ins Kanzleramt und nahm die besten Mitarbeiter des Stabes mit. Der Chef ließ mir freie Hand bei der Auswahl der Nachfolger. Alle erwiesen sich als hervorragend. Für mich wurde es die Zeit, aus dem Tutzinger Entwurf eines »Wandels durch Annäherung« eine ausgearbeitete Konzeption zu entwickeln. Von Diehl hatte ich gelernt, als Botschafter zbV (zur besonderen Verwendung) auch außenpolitisch operieren zu können.
    So unglaublich das auch heute klingt: Eine Konzeption mit dem Ziel der deutschen Einheit existierte nicht. Mein sympathischer und intelligenter Vorgänger hatte noch im März 1966 empfohlen, sich auf das Halten gut befestigter Stellungen zu beschränken, und »keine Notwendigkeit« gesehen, die »Hallstein-Doktrin« aufzugeben. Meine Vorgabe an den Planungsstab, ein Konzept zur deutschen Einheit zu entwickeln, erfuhr die geläufige Antwort, das liege in der Kompetenz der Vier Mächte. Die Aufgabe, unterhalb dieser unkündbaren Siegerrechte die deutschen Interessen zu analysieren und das Undenkbare zu denken, mochte den Kollegen illusionär erschienen sein, aber auch reizvoll. Brandt kannte die Neuorientierung und teilte sie. Es brauchte nichts mehr abgesprochen zu werden.
    Die erste von uns erarbeitete Studie »Konzeptionen der Europäischen Sicherheit« untersuchte die außenpolitischen Voraussetzungen der »Sicherheit für Deutschland und der Sicherheit vor Deutschland«. Wir nahmen die Interessen aller Staaten unter die Lupe und bewerteten Alternativen. Die Beteiligung der DDR als Staat in jedwedem europäischen Sicherheitssystem und die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze wurden als unvermeidbar erkannt. Das Papier wurde im Juni 1968 Brandt vorgelegt.
    Wichtiger war die zweite Studie »Überlegungen zur Außenpolitik einer künftigen Bundesregierung«, verbunden mit dem Konzept eines Rahmenvertrags mit der DDR. Brandt erhielt sie am 18. September 1969, also zehn Tage vor der Bundestagswahl, las sie während eines gemeinsamen Blitzfluges nach Washington und befand: »Gar nicht so schlecht. Ich hoffe, wir können das bald brauchen.« Wir hofften, waren aber gar nicht sicher, wie die Wahl ausgehen würde. Beide Papiere formulierten, was später das System der zweiseitigen Verträge mit Moskau, Prag und Ostberlin wurde. Beide waren unter dem Diktum geschrieben worden, dass sie den Interessen unseres Landes entsprächen, und in der Annahme, dass die Große Koalition fortgesetzt würde. Für Brandt, den Feind von Superlativen, bedeutete die Bemerkung »gar nicht so schlecht« hohes Lob. Es war berechtigt, denn von der gründlichen und systematischen Arbeit profitierte ich 1970 in Moskau: Außenminister Gromyko stellte keine einzige Frage, die wir im Planungsstab nicht durchdacht hatten, so dass ich stets sofort antworten konnte.
    Beide Papiere hatten die Erwartung enthalten, »dass die DDR in den nächsten vier Jahren den völkerrechtlichen Durchbruch erzielen wird«. Schon im Sommer 1962 hatte ich mich in einem Brief an Brandt besorgt gezeigt: »Die letzten Monate haben begonnen, in denen die De-facto-Anerkennung der Zone noch etwas bringt.« Das war ein Jahr vor Tutzing! Damals hatte er gesagt: »Du hast recht, aber was können wir tun?« Im Herbst 1969 stand fest, dass mehrere Länder der Dritten Welt, darunter auch Indien, trotz der Bonner Drohung mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen bereit waren, die DDR völkerrechtlich anzuerkennen. Die Politik der

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