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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Bahr
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schon länger angenommen, dass das vitale Interesse der beiden Supermächte, ihre Sanktuarien unantastbar zu machen, also möglichst zu überleben, Europa im Ernstfall zu einem Exerzierplatz für kleine Atomwaffen machen würde. Jetzt sollte dieses Szenario Vertrag werden, um die große atomare Gefahr zu verringern, was sich durchaus positiv für Europa auswirken konnte.
    Henry wollte die Reaktion des deutschen Kanzlers testen. Brandt äußerte sich positiv, sofern die NATO-Verpflichtungen unangetastet blieben. Er wies auf seinen Standpunkt hin, dass friedliche Koexistenz die einzige Chance des Überlebens sei. Für die Absicht, diese Realität in Paragraphen zu fassen, könnten die USA mit der Zustimmung der Bundesrepublik rechnen. Entspannung zwischen Washington und Moskau sei gut für Deutschland. Die Vertraulichkeit wurde gewahrt. Selbst in den »Kanal-Mitteilungen« wurde das zwischen Kissinger und Brandt besprochene Thema nie genannt, sondern stets auf die »nur für den Kanzler bestimmte Sache« Bezug genommen.
    Angesichts dieser Dimensionen erschienen die deutsch-deutschen Angelegenheiten winzig, was sie für uns natürlich nicht waren. Brandt blieb in München, als der »Schwarze September« mit dem Anschlag gegen die israelische Mannschaft die heiteren Spiele beendete. Gemeinsam mit Bundespräsident Heinemann entschied er, sie fortzusetzen.
    In Bonn bekam ich eine persönliche Mitteilung Honeckers. Er regte an, trotz aller Schwierigkeiten unsere Verhandlungen zügig weiterzuführen, und bekundete seine Bereitschaft zu einem weiteren persönlichen Gespräch. Zeit zur Abstimmung mit Brandt gab es nicht. Also flog ich nach Berlin und schrieb unterwegs stenographisch fünf Punkte auf, die ich Honecker als Mitteilung des Kanzlers vortrug. Als ich Willy am nächsten Abend in München vorlas, was in seinem Namen verkündet worden war, lachte er: »Gott sei Dank, dass du das gemacht hast. Ich wäre nicht so scharf gewesen.«
    Es wurde eine Verhandlung unter vier Augen über wesentliche Punkte, die den Abschluss des Grundlagenvertrags zwei Monate später erleichterten. Als interessante emanzipatorische Geste des Landsmanns empfand ich seine Bemerkung, er würde die Luftkorridore respektieren und wir könnten später ein deutsch-deutsches Luftfahrtabkommen schließen. Daran hatte ich auch schon gedacht. Die Sache scheiterte nicht an der DDR, auch nicht an Gromyko, sondern an den Luftattachés der drei Westmächte, die unser Vorhaben im Interesse ihrer Monopolgesellschaften brüsk ablehnten.
    Zu keinem Thema äußerte sich Honecker ausführlicher und facettenreicher als zur Nation. »Kein Vertrag wird unterschrieben werden, in dem das Wort ›Einheit der Nation‹ oder ›Wiedervereinigung‹ vorkommt«, erklärte er. Keiner unserer Verbündeten sei für die Einheit Deutschlands. Sie würden auf beiden Seiten »alle Hände hochheben, wenn sie das Wort nur hören«. Beide Staaten zusammen seien wirtschaftlich zu stark. Dann kündigte er an, »alle Einrichtungen abzubauen, die sich bisher in die inneren Angelegenheiten der BRD eingemischt haben«. Er könne das nicht in gleicher Weise von Bonn erwarten – er kannte die Grenzen, die das Grundgesetz zog –, lege aber Wert auf das Wort »Nichteinmischung«, das »zu den elementaren Grundsätzen zwischen Staaten gehört«. Das Thema »Friedensvertrag« solle man »vorläufig« aus den Verhandlungen herauslassen: »Es wird keinen Friedensvertrag geben. Das wissen wir heute schon. Vielleicht kann man das Wort zum Schluss hineinschreiben. Ich weiß es nicht.«
    Honecker bewies Übersicht, Entscheidungsfähigkeit und mehr Kompetenz als mancher unserer Oberen in Bonn. Ohne ihn wäre die innerdeutsche Annäherung nicht möglich gewesen. Sein Irrtum zu glauben, Abgrenzung und Annäherung miteinander verbinden zu können, bleibt erstaunlich. Wie er nach der Einheit behandelt wurde, ist kein Grund, stolz zu sein.
    Beim Abschied trug er mir Grüße an Brandt und Wehner auf und bemerkte, im Saarland sei er Untergebener Wehners gewesen; er würde ihn gern einmal »in seinem Gebiet« treffen. In Bonn war der »Onkel« erleichtert und fand es wie Willy gut, dass wir nun durchverhandeln konnten.
    Im Kabinett polterte Schmidt, er wünsche weniger Lob für Bahr; der habe als Beamter ohnehin unangemessen viel Publizität. Ich weiß nicht, ob diese Kritik der Grund für Willys überraschenden Vorschlag war, ich solle ein Bundestagsmandat anstreben: »Dein Freund Helmut hält es für nötig,

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