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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Bahr
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gedämpft. Nachdem drei Abgeordnete der FDP und einer der SPD zur Union gewechselt waren, hatte die Koalition keine Mehrheit mehr. Brandt überlegte, die Vertrauensfrage zu stellen. Ehmke war dafür, ich dagegen. »Ein Kanzler, dem der Haushalt verweigert wird, muss sich stellen«, beharrte Brandt. Ich argumentierte: »Barzel ist gerade auf den Bauch gefallen, warum musst du ihm folgen?« Bei einem Patt dürfe die Regierung keinen Kraftakt suchen. In der abendlichen Kabinettssitzung lächelte der Kanzler: »Jedes Land braucht eine Regierung. Dieses Land hat eine. Das trifft sich gut.« So wurde der Weg zu vorgezogenen Neuwahlen geebnet.
    Im Juli 1972 wurde ein ausführlicher Brief von Breschnew an Brandt übermittelt mit dem Hinweis auf Versuche der DDR, unsere Beziehungen zu Moskau zu erschweren. Der Brief enthielt eine interessante Information: »Barzel und Strauß haben um Gesprächskontakte gebeten. Strauß ist schlicht abgelehnt worden, solange er seine bisherige Haltung nicht öffentlich ändert. Barzel, der betont hat, er habe ehrlich versucht, den Vertrag zur Annahme zu bringen, aber es sei über seine Kräfte gegangen, wollte den Kontakt vor seinem Urlaub haben. Dies wurde nicht akzeptiert. Im Falle einer negativen Haltung hier würde es einen solchen Kontakt auch nicht geben. Ich habe gesagt, dass dagegen nichts einzuwenden wäre.« Diese abrupte Positionsänderung der beiden führenden Oppositionsköpfe nur drei Monate nach dem missglückten Misstrauensvotum war bemerkenswert.
    Trotz der fragwürdigen Haltung der Opposition war der Wahlausgang offen. Einige Genossen argumentierten, wir seien nur durch das Tempo und die Radikalität der Ostpolitik in diese Lage gekommen; man solle beides mäßigen. Doch die Koalition war fast missionarisch durchdrungen davon, dass wir das Richtige und Nötige für unser Land taten. In dieser Überzeugung waren sich alle einig, Scheel, Wehner und Ehmke eingeschlossen. Diese Haltung respektierten die Menschen, auch wenn die öffentliche Meinung sich einig war, dass diese Koalition keine Wahlen mehr gewinnen könne. Zu allem Überfluss sprang auch noch der angesehene Wirtschaftsminister Schiller ab und löste schadenfrohe Erörterungen aus, wie viele Schillerwähler es wohl gäbe.
    Im Kanzlerbüro berieten Brandt, Wehner und ich über die Fortsetzung der Verhandlungen mit der DDR. Wehner schlug vor, nach dem Muster des Verkehrsvertrages nun Monat für Monat weitere Verträge zu einzelnen Sachgebieten zu schließen, um die Opposition jeweils vor Entscheidungen zu stellen. Ich argumentierte für einen Grundvertrag, der das Verhältnis der beiden Staaten umfassend regeln sollte. In typischer Manier befand Willy: »Beredet das mal weiter.« Auf dem Weg zu seinem Wagen erläuterte ich dem »Onkel«, dass laufende Verhandlungen mit andauernder Berichterstattung viel öffentlichkeitswirksamer sein würden. Das überzeugte ihn: »So machen wir das. Sag das Willy.«
    Die Koalition einigte sich auf den 19. November als Tag der vorgezogenen Bundestagswahl. Kohl und ich erkannten, dass ein umfassender Grundvertrag, der von der Post bis zur Kultur alles regelte, unter dem beiderseits gewünschten Termindruck nicht erreichbar wäre. So machten wir aus dem Grundvertrag den Grundlagenvertrag, der den Rahmen für das Nebeneinander der beiden Staaten regeln sollte, solange es sie gab.
    Die Krise des Freundes
    Es kam aus heiterem Himmel. Rut rief weinend an: Willy sei nicht ansprechbar. Im November konnte man damit rechnen, dass er sich eine Auszeit genehmigte, um ungestört Ruhe zu finden und neue Kräfte zu sammeln. Der permanente Überdruck musste abgebaut werden. Danach agierte er ein Jahr lang mit voller Kraft bis zum nächsten November. Das wurde als depressive Phase verstanden, was es nur zum Teil war. Brandt war das Gegenteil eines depressiven Menschen. Jeder in herausgehobener Position in Wirtschaft, Kultur oder Politik kennt die stille, zweifelnde Selbsterforschung, sofern er nicht völlig abgestumpft ist. Ein sensibler Mann wie Brandt kannte sie erst recht. Zu seinen Stärken zählte die schnelle Erholungsfähigkeit. Aber es war Sommer, und das war alarmierend.
    Willy lag in seinem abgedunkelten Schlafzimmer. »Ich habe keine Lust mehr.« Es ist ein böses Zeichen, wenn beim Ausüben von Verantwortung die Verbindung von Lust und Last verlorengeht. Er lud den ganzen Frust ab, eine Mischung von Resignation und Wut. Er vermutete Ehmke als Quelle von Indiskretionen, über die sich Wehner

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