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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Bahr
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Urlaub in Sierra Leone. Bei der Rückkehr überraschte er mich gespielt fröhlich, die Koalition hätte Werner Maihofer und mich zu Bundesministern für besondere Aufgaben ernannt. Horst Grabert würde als Staatssekretär dem Kanzleramt vorstehen. Der war als Bundessenator mit Berliner wie Bonner Problemen vertraut, menschlich angenehm, klug und, gemessen an Ehmke, der das Ressort Forschung und Technologie übernahm, leise.
    Mit schlechtem Gewissen wegen des Urlaubs fand ich den Freund erschöpft von den Strapazen des Jahres. Er krächzte, er müsse sich die Stimmbänder schälen lassen und freue sich auf die Vollnarkose und die beiden Wochen ohne Stimme, die ihm den Ärger um die Kabinettsbildung ersparen würden. Praktisch hatte er lediglich den Kanzleramtsbereich geregelt. Doch er hatte Wehner eine lange Aufzeichnung über seine Vorstellungen zur Kabinettsbildung gegeben, um dann feststellen zu müssen, dass dieser sie in seiner Aktentasche »vergessen« hatte. So entschied die Koalition ohne Berücksichtigung von Brandts Wünschen über Zuschnitt und Besetzung des neuen Kabinetts. Das war kein Staatsstreich, aber gewiss ein Streich gegen den Bundeskanzler. Später erzählte er, während des Sprech- und Rauchverbots nach der Operation habe er täglich zwei Fehler gemacht, ohne es verhindern zu können. Ich solle jedenfalls nicht plötzlich das Rauchen einstellen. Das war ernst gesagt und gemeint. Das Schicksalsjahr entließ den Freund ausgebrannt und schwach.
    Zäher Neustart
    Für das neue Jahr formulierte Walter Scheel das allgemeine Gefühl: »Herr Bundeskanzler, das Jahr ’73 sollte mehr Erholung als Neues bringen. Vor allem sollten wir uns Zeit nehmen, der Bevölkerung alles zu erklären, was wir gemacht haben.« Ein sehr guter Rat, denn selbst in der eigenen Partei spürte man, dass der Geist der Entspannungspolitik und der Ostverträge nicht im allgemeinen Bewusstsein angekommen war. Beim geringsten Gegenwind zeigten sich Unsicherheiten.
    Der Jahreswechsel hatte dem Freund nicht gereicht, um sich zu erholen. Der Schwung war weg, mit dem er an der ersten Regierungserklärung 1969 gearbeitet hatte. Die zweite wurde aus den Entwürfen der Ministerien zusammengestückelt. Das konnte auch die Bereicherung durch den neuen Redenschreiber nicht ändern. Klaus Harpprecht, dessen hinreißende Thomas-Mann-Biographie ich später verschlang, war mit der Literatur vertrauter als mit der Politik. Sein Vorschlag, das Wort »compassion« zu einem tragenden Begriff zu machen, gefiel Willy. Ich empfand das als Schwäche gegenüber einer Art von Bildung, die ihm sein Lebensweg vorenthalten hatte. Was sollte ein englisches Wort, für das es im Deutschen keine treffende Übersetzung gibt, in der Regierungserklärung des deutschen Kanzlers? Aber Willy beharrte und wollte darüber nicht streiten. Ich auch nicht. Das war der lahme Geist, der an die Stelle des Gestaltungsrausches getreten war.
    Mit leichter Verspätung holten auch mich die Strapazen von drei Jahren voller Verhandlungen ein. Anfang März 1973 fühlte ich mich matt und ging zum Arzt. Der wollte mich gleich dabehalten. Ich wollte aber am nächsten Tag nach Paris fahren. Wenn ich sterben wolle, hätte er nichts dagegen. Mein Adrenalin sei fast aufgebraucht. Neudeutsch heißt das Burnout. Vier Wochen lag ich fest. Körper und Kopf schalteten um auf eine nie erlebte Gleichgültigkeit gegenüber allem und jedem. Ich vermisste weder Zeitungen noch Radio oder Fernsehen, nicht einmal einen Anruf von Willy. Nach vier Wochen stand ich taumelnd auf, wurde in ein Sanatorium am Tegernsee verlegt und versuchte besorgt, meine Artikulationsfähigkeit wiederherzustellen. Fürsorglich erkundigte sich Willy, welche Fortschritte die Genesung mache. Für einen unerwarteten Besuch von Hans-Jochen Vogel bin ich immer dankbar geblieben.
    Der Mai hellte die Stimmung auf. Breschnew gab bei seinem ersten Besuch in der Bundesrepublik Rut im Garten der Kanzler-Residenz einen nicht enden wollenden Handkuss. Die gegenseitige Sympathie war unverkennbar. Das Auswärtige Amt hatte die einundzwanzig Salutschüsse für den Gast abgelehnt, die er in Paris erhalten hatte, weil Breschnew kein Staatsoberhaupt sei. Das Protokoll hatte am Ende aber nichts dagegen, dass er Dokumente unterschrieb, die er eigentlich »für die Regierung der Sowjetunion« gar nicht hätte unterschreiben dürfen.
    Generalsekretär und Kanzler hatten Gromyko und mich beauftragt, das Kommuniqué vorzubereiten. Dabei kam es zu einem

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