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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Bahr
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dich in der Partei stärker hervorzuheben.« Außerdem könne ein Mandat nicht schaden, falls die Wahlen verlorengingen. Schmidts Bemerkung bezog sich auf das von mir angestrebte Resultat, mit dem ich Wehner überzeugt hatte, direkt zum Grundvertrag zu gehen. Die Zahl der Begegnungen mit Kohl hatte die sechzig überschritten, und ein Ende war noch nicht abzusehen.
    Der Umgang in der Spitzengruppe der Koalition blieb freundschaftlich. Scheel machte in Gegenwart Ehmkes die treffende Bemerkung: »Der Kollege Ehmke löst fast alle Probleme, die er schafft.« Der Chef des Kanzleramtes, intelligent und arbeitseffizient, genoss es, die Pfeile, die dem Kanzler galten, auf sich zu ziehen. Außerdem überwachte er die Geheimdienste. Dass Horst ausgerechnet seine große Liebe zu einer Tschechin fand, war erfreulich und pikant. Er musste auch nachts erreichbar sein, was wir über mich organisierten. Wir vertraten uns gegenseitig und verabredeten, im Falle einer (damals durchaus denkbaren) Entführung ohne Rücksicht auf den Freund vorzugehen. Meine Bewunderung für das Pensum und die Arbeitskraft von Hotte, wie wir ihn nannten, war groß. Von den gewaltigen Aufgaben, die jenseits meiner entspannungspolitischen Aktivitäten lagen, gewann ich allenfalls eine Ahnung. Die innenpolitischen Erfolge der Koalition erhielten nicht die öffentliche Aufmerksamkeit, die sie verdient hätten. Dass sich außerhalb des Kanzleramtes ein Gefühl von Neid einschlich, konnte nicht ausgeschlossen werden.
    Nachdem ich mich zur Bewerbung um ein Bundestagsmandat bereit erklärt hatte, vermittelte Willy den Kontakt zu Jochen Steffen. Der Vorsitzende in Schleswig-Holstein war ein linker Demokrat bis auf die Knochen, der keinerlei kommunistisch gefärbte »Stamokap«-Tendenzen duldete, wie es sie zum Beispiel in Hamburg gab. Sein Wort »Solch einen Eierkopf können wir brauchen« genügte, um mich an die Spitze der Landesliste zu wählen. Nun kam zu allen weiterlaufenden Verhandlungen und Terminen jeden Montag der Besuch im Wahlkreis hoch im Norden. Ich war dankbar für das Verständnis, das der linke Landesverband für mich und meine Bonner Aufgaben aufbrachte, die durchaus nicht immer linken Positionen entsprachen. Der »rote Jochen« erklärte mir, dass die friedliche Nutzung der Kernkraft endlich die Perspektive eröffne, alle Energieprobleme sauber zu lösen. In dieser Hinsicht marschierten wir an der Spitze des Fortschritts. So gewann ich eine Lehre bis in die Gegenwart: Die Politik folgt der Wissenschaft, auch dann, wenn sie neue Gefahren entdeckt, etwa bei der Entsorgung strahlenden Mülls oder nach Tschernobyl und Fukushima. Mit den erneuerbaren Energien wird es ähnlich sein. Der gute Vorsatz der Politik, zugleich vorsorglich und nachhaltig wirken zu wollen, erscheint naiv. Sie wird auch in Zukunft jedem neuen Durchbruch der Technik folgen. Und die Warnungen der Wissenschaft vor den Grenzen der globalen Ressourcen stoßen auf eine Politik, die eher in den Grenzen von Legislaturperioden denkt.
    Auf der Zielgeraden
    In unseren Verhandlungen einigten Michael Kohl und ich uns auf einen kleinen Grenzverkehr zwischen Ostsee und Böhmerwald. Ein Gebiet, das 110 Landkreise umfasste, erhielt vier neue Übergänge. Weitere vier lehnte Kohl ab: »Ich kann jetzt nicht mehr.« In Erinnerung an die erste Passierscheinregelung in Berlin hatte ich mit einem großen Andrang gerechnet. Kohl sagte zu, sich in diesem Fall sofort zu treffen und neue Übergänge zu verabreden. Meine große Enttäuschung: Der Andrang blieb aus. Meine größere Enttäuschung: Nach dem 3. Oktober 1990 gab es keine Welle der Rückkehr in die alte Heimat, bereichert durch im Westen gewonnene Erfahrungen. Als Volk haben wir Glück gehabt. Die koreanische Tragik, dass man ein Volk wirklich teilen kann, wenn es lange genug geteilt bleibt, ist uns erspart geblieben.
    In der Schlussphase der Verhandlungen entschloss sich Brandt, Breschnew zu bitten, er möge die DDR dazu bewegen, uns in den prinzipiellen Fragen von Friedensvertrag und Nation entgegenzukommen. Damit es für alle Beteiligten ein Erfolg werde, müsse im Vertrag zum Ausdruck kommen, »dass es sich bei den deutschen Staaten um solche einer Nation handelt. Ohne entsprechende Formulierungen ist der Vertrag politisch nicht durchsetzbar; er würde auch durch das Verfassungsgericht für ungültig erklärt werden.« Eine so ungeschminkte Sprache war möglich geworden, weil Brandt und Breschnew sich seit ihrem zweiten Treffen im Herbst

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