»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
und Schmidt beklagten. Mit Wehner gehe es nicht, und Schmidt habe ihm scheißfreundlich geschrieben. In der Fraktion gebe es Unzufriedenheit, weil er nicht führe. Ehmke tue als Chef des Kanzleramtes so, als leiste er sich nebenbei auch einen Kanzler. Die Partei sei nicht regierungsfähig. Und Scheel habe er wegen der Korinthenkackerei seines Ministeriums darauf hinweisen müssen, dass der Kreml kein Amtsgericht sei. Er wolle aufhören: »Ich bin gescheitert mit meiner Art, die eben keine Befehle erteilt und Menschen wie Menschen behandelt.« Sein Wunsch, »Schluss zu machen und den ganzen Kram hinzuschmeißen«, war zum Glück unerfüllbar, weil der Bundespräsident auf Reisen war.
Seit ich Brandts Lebensweg verfolgte, erlebte ich ihn als einen Menschen, der ständig unter Druck steht. Das galt gewiss schon für den Jungen und den Emigranten. Erst recht galt es für den Abgeordneten, den Regierenden Bürgermeister, den Parteivorsitzenden und mehrfachen Kanzlerkandidaten, den Außenminister und schließlich den Bundeskanzler. Mit der Verantwortung wuchs zwar auch die Fähigkeit, dem Druck standzuhalten. Aber jede größere und umfassendere Verantwortung führte ihn an immer neue Grenzen und konnte seine Kräfte überspannen. Wann, wie und wo sollte er sich von der ständigen Hochspannung ausruhen?
Diese akute Frage führte zu der simplen Antwort, eine Auszeit zu nehmen. Schon bald nach Beginn unserer Zusammenarbeit genossen wir ganz allein eine Woche auf der tunesischen Insel Djerba, suchten in den Ruinen römische Münzen, besichtigten die älteste Synagoge des Landes und überfraßen uns auf Einladung des Gouverneurs unmäßig. Bei einem Spaziergang am Strand zog Willy sich plötzlich aus und sprang wie ein Wikinger ins Wasser. Mir war es viel zu kalt. Solche unbeschwerten Momente gab es auch Anfang der sechziger Jahre am Golf von Mexiko. Willy wollte angeln, wie er das von norddeutschen und skandinavischen Gewässern her kannte. Mit der schweren Hochsee-Angel hatte er keine Erfahrung. Unsere Begleiter schrien sofort, dass er die Leine nicht anfassen dürfe. Er verlöre seinen Finger, wenn ein großer Fisch anbisse. Als Anfänger fing ich den größeren Fisch und überließ ihn Willy, der damit vor der Kamera posierte. Wir benahmen uns wie älter gewordene Jungs. Dabei gewann er die Gewissheit, dass ich ihn nicht mit aktuellen Problemen behelligen würde. Was ich auch in den seltenen selbstbestimmten Pausen am Ende eines Arbeitstages nicht tat, wenn wir zum Beispiel ein amüsantes Gespräch über das Buch von Gerhard Zwerenz »Der kleine Herr in Krieg und Frieden« führten.
Im Urlaub besuchte ich ihn nicht, aber ein Kanzlerurlaub war nur die Verlegung des Arbeitsplatzes an einen anderen Ort. Das Leben des Freundes war die Politik. Ob die Zeit mit der Familie aus längeren oder kürzeren Intervallen bestand, wollte ich nicht erforschen. Er hätte auch nicht gefragt werden wollen. Dann gab es entspannte Minuten, wenn Brandt am Ende einer Kabinettssitzung seine befreiende Frage stellte: »Weiß jemand noch einen guten Witz?«
Dass es diese Krise im Sommer 1972 gab, war übrigens für keinen Außenstehenden erkennbar. Brandts Kraft und Entschlossenheit reichten bis zum Ende jenes turbulenten Jahres. Er war ein starker Charakter. Er kannte seine außergewöhnlichen Fähigkeiten und wusste um seine Bedeutung für unser Volk in einer vielleicht historischen Situation. Getragen von diesem Selbstbewusstsein, von Bescheidenheit und Stolz, wünschte er sich als Inschrift auf seinem Grabstein: »Man hat sich bemüht.«
Wachsendes Vertrauen in
West und Ost
Anfang September kam Henry Kissinger zu den Olympischen Spielen nach München, um mit dem Kanzler zu sprechen. Unser Verhältnis konnte fast herzlich genannt werden. Ob eine Reise zu Gesprächen nach Moskau, eine gemeinsame Reise mit Nixon nach Peking oder der Stand des amerikanischen Abzugs aus Vietnam – über alles wurden wir immer frühzeitig und korrekt ins Bild gesetzt. In München verfügten wir über keinen abhörsicheren Raum, doch die Amerikaner hatten Henrys Hotelzimmer unter großem Aufwand zu einem solchen hergerichtet. Also ging der deutsche Kanzler zum amerikanischen Sicherheitsberater. Henry weihte Brandt in die Absicht ein, in Wladiwostok zwischen Nixon und Breschnew vertraglich zu vereinbaren, keine Atomwaffen gegeneinander einzusetzen, also ihre Territorien zu verschonen. Das gelte nicht für China, den Nahen Osten und Europa. Brandt und ich hatten
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