»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
erwartenden Reiseerleichterungen zu einem Instrument werden, um den Ostverträgen und dem Vier-Mächte-Abkommen über die parlamentarischen Hürden zu helfen?
Slawa und Leo waren nervös. Immerhin stand das Prestige Breschnews und seiner neuen Politik gegenüber Bonn auf dem Spiel. Viele Wochen lang gab ich ein ehrliches Bild der Lage und bewertete die Chancen einer Ratifizierung mit fünfzig zu fünfzig. Breschnew gestattete einer großen Gruppe von Russlanddeutschen die Ausreise, was aber keinen Abgeordneten der Union zu einer Änderung seines Abstimmungsverhaltens bewegte. Meinen Vorschlag, unser Transitabkommen probeweise in Kraft zu setzen, lehnte Kohl brüsk ab: »Wir denken gar nicht daran, einem neuen Bundeskanzler Barzel eine solche Morgengabe zu bescheren. Wenn alles schiefgeht, werden die Zeiten eisig. Dann kann man mal wieder richtig schimpfen.« Immerhin stellte er in Aussicht, uns mit der »zeitweiligen Anwendung« statt der unmöglichen »Inkraftsetzung« des Abkommens entgegenzukommen. Dann fragte er, ob ich Honecker sprechen möchte. Das war nach New York und Moskau meine dritte Erfahrung mit der Methode der rhetorischen Frage.
Zur Vorbereitung ging ich zu dem einzigen Menschen in Bonn, der Honecker aus der gemeinsamen Vorkriegszeit im Saarland kannte. Herbert Wehner sagte knapp: »An seinen Händen klebt kein Blut.« An diese Einschätzung hielt ich mich und habe es nicht bereut. In Ostberlin traf ich einen schmächtigen Mann, etwas kleiner als ich, mit blasser, straffer Haut und wachem Blick. Seine Unsicherheit schwand, nachdem er Kaffee eingeschenkt hatte. Zu meiner Erleichterung fragte er nicht, wie es denn morgen im Bundestag ausgehen werde. Er kam schnell zur Sache und akzeptierte, »wenn es nötig ist«, die Einbeziehung Berlins in den Verkehrsvertrag, gegen die Kohl noch gekämpft hatte. Er bot sogar eine noch bessere Formel an, was ich ablehnte. Kohl kommentierte später: »Das werden wir Ihnen hoch anrechnen.«
Die Besprechung mit Honecker brachte den Durchbruch. Westdeutsche sollten mehrfach nicht nur Verwandte, sondern auch Bekannte in der DDR besuchen können. Die Freigrenze für Geschenke wurde erhöht. Touristische Reisen, auch mit dem eigenen Wagen, wurden möglich. In dringenden Fällen sollten Familienzusammenführungen ohne Altersbeschränkung erleichtert werden. Zur Herabsetzung der Altersgrenze für Besuche im Westen sah er sich noch nicht in der Lage. Unser Gespräch war die Quelle, die – mal erweitert, mal gedrosselt – zum Strom millionenfacher Besuche wurde.
»Wir sind bereit«, erklärte Honecker, »diesen Weg zu gehen. Wir wollen die Sache ähnlich wie zu den Polen und Tschechen in Fluss bringen, also Besuchserlaubnisse nicht mehr an die Kreise binden, Hotelkapazitäten erweitern und für Ihre Bürger freihalten.« Seine Einschränkung: »Wir müssen den Prozess unter Kontrolle halten«, fand ich verständlich. Aber keine Reiseerleichterung und keine der von uns erwarteten Abgrenzungskampagnen konnte den Drang der DDR-Bürger nach Westen stoppen.
»Wenn alles gutgeht«, versprach Honecker, sei er bereit, die grundsätzlichen Beziehungen zwischen beiden Staaten zu regeln. »Wir haben Sie hierher gebeten, um Ihnen das zu sagen.« Das wurde für den Rest des Jahres wichtig. Wir tranken einen armenischen Cognac. Er ließ Grüße an Brandt und Wehner ausrichten.
Weder der Verkehrsvertrag noch Honeckers Zusagen hatten angesichts der leidenschaftlichen Kämpfe um die Macht in Bonn noch irgendeine Bedeutung. Die souveräne Haltung Brandts, mit der er gutgemeinte Hilfen aus West und Ost behandelte, verfehlte ihre Wirkung nicht. Der Tag der gewonnenen Abstimmung brachte viele Glückwünsche. Die Unterstützung aus Washington und Moskau hatte sich als solide und verlässlich erwiesen. In diesem Frühjahr 1972 wurde eine internationale Bereitschaft erkennbar, die sozialliberale Koalition zu erhalten und langfristig mit ihr zusammenzuarbeiten.
Nun ging es darum, die Ostverträge zu ratifizieren. Nachdem Oppositionsführer Rainer Barzel fast tragisch in einer Schlüsselfrage der Nation durch die Enthaltung seiner Fraktion, die Brandt als »Enthaltung vom Gewissen« verspottete, die Mehrheit für das ganze Paket ermöglicht hatte, liefen die Ratifizierungen des Moskauer und des Warschauer Vertrages am 17. Mai und des Verkehrsvertrages am 26. Mai reibungslos ab. Die Unterschriften der Vier Mächte setzten das Transitabkommen in Kraft. Doch die Stimmung im Kanzleramt blieb
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