»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
1971 auf der Krim nähergekommen waren, Vertrauen entwickelt und einen intensiven Briefwechsel gepflegt hatten. Es blieb trotzdem ein Wagnis, das an Zumutung grenzte, so undiplomatisch vorzugehen, um über den großen Bruder Druck auf die DDR auszuüben.
Nach Tagen ohne Echo regte der Kanal an, ich sollte es direkt mit Breschnew versuchen. »Der mag dich«, hatte Willy schon auf der Krim geäußert. Wir gingen davon aus, dass die DDR von meinem Besuch erfahren würde, weil ich einen Verhandlungstermin mit Kohl absagen musste, was sich auf die Schlussrunde bis zur Paraphierung negativ auswirken konnte. Willy entschied, das Risiko einzugehen.
In Moskau ergaben stundenlange Gespräche mit Gromyko keine Bewegung. Am nächsten Morgen, es war der 10. Oktober 1972, begrüßte mich Breschnew herzlich. »Ich spreche mit Ihnen wie mit dem Kanzler.« Er begann mit »unamtlichen« Anekdoten. Mit den Pointen der Stichworte »vier Frauen«, »die Geschichte mit der Logik« und »der Siebzigjährige«, die ich mir notiert hatte, konnte ich Willy später amüsieren; inzwischen habe ich sie längst vergessen. Zu den Kernpunkten unserer Verhandlungen erklärte er, sie seien sehr kompliziert und erforderten ernsthafte Erwägungen. Er entspannte sich erst, als ich meine Pfeifentasche öffnete, um meine Pfeife zu stopfen, und er sah, dass darin kein Bandgerät lief. Dann zog er ein Etui aus der Tasche, zündete sich eine Zigarette an und beklagte sich über die Ärzte, die dafür gesorgt hätten, dass sich das Etui nur alle dreißig Minuten öffnen ließe. Er erkundigte sich nach dem Stand des Wahlkampfs. Nach vier Stunden beendete er das Gespräch ohne Festlegung in den beiden Punkten, derentwegen ich gekommen war. Er müsse den Schah empfangen. Welchen Einfluss er danach auf die Genossen in Ostberlin nahm, ergab sich auch nicht aus der Mitteilung an den Kanzler: »Ich bin sehr zufrieden über das Gespräch mit Herrn Bahr. Ich sprach mit ihm und hörte Ihre Stimme. Wir äußerten beide manchmal verschiedene Standpunkte, aber das ist kein Grund, enttäuscht zu sein … Wir sind bereit, alles Mögliche zu tun, um zu helfen.«
Nach meinem Bericht kamen Willy und ich zu dem Ergebnis, Honecker habe zu Recht darauf hingewiesen, dass niemand wisse, ob und wann es einen Friedensvertrag geben würde. Die Annahme des Briefes zur Deutschen Einheit, den wir bei der Unterzeichnung des Moskauer Vertrages übergeben hatten, würde auch gegenüber der DDR reichen. Eine kleine Kabinettsrunde erörterte die Frage der Einbeziehung der Nation. Nur Wehner äußerte: »Daran darf es nicht scheitern.« Aber er war für mich nicht weisungsberechtigt.
In der nächsten, möglicherweise letzten Sitzung erklärte ich Kohl, ohne Bezug auf die Nation zumindest in der Präambel könne ich nicht paraphieren. Er unterbrach und kam nach einer halben Stunde mit der Entscheidung Honeckers zurück, wir könnten nach meinem Vorschlag formulieren. Unsere Paraphen beendeten die Verhandlungen. Die beiden Regierungen konnten nun prüfen, um dann ihre Zustimmung zur Unterzeichnung zu geben.
Die Paraphierung erfolgte am 8. November, zeitgleich mit der Veröffentlichung des Vertragstextes. Die Bevölkerung sollte durch die Wahl am 19. November auch über den Grundlagenvertrag entscheiden; eine neue Regierung sollte frei sein, neu oder gar nicht zu verhandeln.
Nach der Paraphierung empfing der Bundeskanzler Michael Kohl. Wir alle saßen fast ungläubig im Kanzlerbungalow und waren zu müde, um uns darüber zu freuen, dass die große Sache wirklich geschafft war. Der Wahlerfolg ermöglichte dann die Vertragsunterzeichnung am 21. Dezember. Schon vor der Unterschrift hatten wir vereinbart, dass wir den Antrag der DDR unterstützen würden, in Paris Mitglied der UNESCO zu werden, was noch zwei Wochen zuvor undenkbar gewesen wäre.
Der größte Wahlerfolg in der Geschichte der SPD machte sie zur stärksten Partei im Bundestag. »Willy wählen!« war das wertvollste Argument gewesen. Wann würde man je wieder plakatieren: »Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land«? Es war der Gipfel, auf dem sich niemand häuslich niederlassen kann.
Willy dankte fast feierlich für den Grundlagenvertrag. »Das ist dein Kind. Du hast es verdient, deinen Vertrag auch zu unterschreiben.« Er wiederholte das Angebot, Ehmkes Aufgabe im Kanzleramt zu übernehmen. Als ich erneut ablehnte, sagte er: »Jedenfalls solltest du dein Bundestagsmandat annehmen.« Dann genehmigte er mir einen kurzen
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