»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
zur Veränderung der Welt. Für die Aufgaben der Partei, der Regierung oder der nächsten Legislaturperiode bevorzugte er den sicheren Weg des Sowohl-als-auch, verlor aber nie seine Grundorientierung aus dem Blick. Sein innerer Kompass zeigte ihm den großen Horizont genauso wie die nächsten Ziele, denen er möglichst nahe kommen wollte.
Was war sein innerer Kompass? Natürlich eine gerechtere Gesellschaft. Die einen nannten das Sozialismus, die anderen Sozialdemokratismus. Es war kein Zufall, dass er sich einer genauen Definition verweigerte, denn er hatte keine. Nicht weniger erstaunlich: Es gab kein Gesamtkonzept, das hätte »Brandt-Plan« genannt werden können. Niemand vermisste das oder fragte danach. Brandt wurde von dem Vertrauen der Menschen getragen, dass er eine Orientierung hatte, der man folgen konnte. Auch das ist Charisma.
Die untadelige Gegnerschaft zum Nazireich, die klare Härte in der Verteidigung der Interessen Westberlins und die Glaubwürdigkeit seiner Entspannungspolitik: Mit der Summe dieser Eigenschaften erwarb Brandt Vertrauen in Ost und West. Seine Standfestigkeit war das Ergebnis überwundener Zweifel. Seine Erfahrung sagte ihm: Erst die Empörung über die Wirklichkeit setzt die Energie frei, um neue Wirklichkeiten zu schaffen. Sein Lebensweg war klar: Nicht Objekt bleiben, sondern die Selbstbestimmung des »Ich« gewinnen; dann die Selbstbestimmung des eigenen Landes und schließlich die Selbstbestimmung Europas.
In der gegebenen Situation gab es keinen anderen Deutschen seines Zuschnitts. Das machte ihn zum Glücksfall für das Land, auch für Europa, ohne den die Geschichte anders verlaufen wäre. Valentin Falin, lange Jahre sowjetischer Botschafter in Bonn und Begleiter der Vertragsverhandlungen, hat es so ausgedrückt: Ohne die Entspannungspolitik Brandts wäre Gorbatschow nicht Nummer eins im Kreml geworden. Und ohne Gorbatschow hätte es die Einheit nicht gegeben.
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Ein Ausspruch Willys ist mir im Gedächtnis geblieben, ohne dass ich wüsste, wann und wem gegenüber er ihn gemacht hat: »Der Egon könnte vielleicht darunter leiden, dass er lange nicht als vollwertig angenommen wurde.« Das hätte er auch von seiner lange unerfüllten Erwartung sagen können, vom eigenen Land wirklich angenommen zu werden. Für mich galt es während der Wehrmachtszeit und der erstaunten Sorge, dass keine Dienststelle die jüdische Großmutter in meiner Wehrstammrolle bemerkte.
Gewisse Parallelitäten in unseren Lebensläufen fielen auf. Im Hause seiner Mutter wurde nie vom Vater gesprochen. Im Hause meiner Eltern wurde nie von der jüdischen Großmutter gesprochen, obwohl ich wusste, dass mein Vater aus seinem geliebten Lehrerberuf entlassen worden war, weil er es ablehnte, sich von seiner Frau scheiden zu lassen. Das Wort »jüdisch« oder »Jude« fiel nie. Die Weihnachtsfeste wurden immer bei der Großmutter in Berlin gefeiert, im Kreise ihrer sieben Kinder mit dazugehörigen Ehepartnern. Onkel Fritz war nach Brasilien entkommen, und Onkel Kurt traf ich mit meinem Vater an einem Abend im Jahre 1934 am Anhalter Bahnhof mit geschorenem Kopf und ohne die beiden Goldzähne, die ihm im KZ Oranienburg herausgebrochen worden waren. »Fragt nicht« waren seine einzigen Worte, bevor er in den Zug stieg, um über Italien nach Shanghai zu fahren.
Der Altersunterschied zwischen Brandt und mir spielte keine Rolle für das Tabu der Abstammung: Er gab sich in der Emigration einen neuen Namen; ich bewahrte mein Tabu in der Wehrmacht. In den Jahrzehnten unserer Bekanntschaft und wachsenden Freundschaft sprachen wir niemals über dieses Erbe. Solange nicht einer von uns begann, sich aufzuschließen, stellte der andere keine Fragen. In diesem gegenseitigen Respekt gedieh eine Freundschaft, die großen politischen Einklang mit großen Unterschieden der Persönlichkeitsstruktur verband.
Über Schmidts jüdischen Großvater, von dem wir durch die Erinnerungen Giscard d’Estaings erfahren hatten, haben Willy und ich nie gesprochen. Helmut und ich auch nicht. Ich verstand sein Bedürfnis zu vermeiden, dass sein Name in Verbindung mit diesem Punkt in ein breiteres Bewusstsein gelangt. Und still dachte ich bei mir: Er ist der Dritte, der bei allen Unterschieden ein Thema hat, das zu Hause tabu gewesen war.
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Meinen Traumberuf würde ich in der Welt der Musik finden. Das war seit meinen Kindheitstagen in Torgau ganz klar: die Musikerziehung im Johann-Walter-Chor, die Aufführungen von Oratorien, das fast
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