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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Bahr
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seines sich langsam entwickelnden Charismas. An sich hätte Brandt allen Grund gehabt, stolz auf seine Vergangenheit zu sein. Er war im besten Sinne ein Selfmademan, aus eigener Kraft aufgestiegen, unabhängig, niemandem finanziell oder beruflich zu Dank verpflichtet. Auf sich selbst angewiesen, lernte er seine Gefühle zu beherrschen, seine Hoffnungen einzuhegen, seine Empfindungen zu verschließen. Er wurde eine introvertierte Persönlichkeit, die niemanden an ihr Innerstes heranließ. Wer die Erinnerungen von Rut und den Söhnen liest, wird darin keine unbeschwerte, warme, fröhliche Familienatmosphäre finden. Willy weilte in seiner Welt, empfindsam und empfindlich; das ist das Gegenteil von gefühlsarm.
    Die Welt forderte von ihm immer größere Anspannungen und nährte seine Zweifel, ihnen gerecht werden zu können. Es gibt keine berufliche Ausbildung mit dem Lernziel eines Regierenden Bürgermeisters, eines Außenministers oder eines Bundeskanzlers. Erst, als er es wurde, ließ sich ermessen, ob er einer war, der Amt und Aufgaben erfüllte, sogar prägte. Er musste seinen Weg in seiner Welt finden. Ich kann mich nicht erinnern, mit ihm über die Maxime »Erkenne dich selbst« gesprochen zu haben. Aber genau dies musste er leisten, um Selbstbewusstsein zu entwickeln und sich durch aktuelle Aufgeregtheiten nicht irre machen zu lassen, sondern seinen Grundeinsichten zu folgen, vielleicht sogar Visionen, und dabei mit beiden Beinen auf dem Boden zu bleiben. Willy war ein Träumer mit Bodenhaftung, kein Ballonfahrer. Er verließ sich auf seinen inneren Kompass. Das gab ihm eine Selbstsicherheit, wie man sie selten findet, die Souveränität des »Ich«. Bei allen Unterschieden habe ich diese Selbstsicherheit sonst nur bei Adenauer und Kohl beobachtet. Das Gegenteil von Wetterfahnen und Beliebigkeit waren sie allemal.
    Die bösartige Gemeinheit, mit der Adenauer 1961 die uneheliche Geburt, den Namenswechsel und die Emigration Brandts diffamierte und gleichzeitig behauptete, die Sowjets hätten die Mauer zu Unterstützung Brandts gebaut, verschlug ihm die Sprache. Das Gift, aus Hetze und Wahrheit gemischt, machte ihn wehrlos. Die Zumutung, sich gegen die Verunglimpfung eines Lebenswegs wehren zu sollen, auf den er stolz war, verletzte ihn zusätzlich. Diese Wunde blieb, auch nach der Befreiung des »Ich« zehn Jahre später in Oslo.
    Jeder Mensch, der führen will, braucht Willen zur Macht. Das ist in der Wirtschaft, in der Wissenschaft oder im Kunstbetrieb nicht prinzipiell anders als in der Politik. Brandt hatte in allen Funktionen, in denen ich ihn beobachten konnte, den Willen zur Führung: in Berlin, in der Partei, im Auswärtigen Amt, in der Sozialistischen Internationale, die er von einer auf Europa begrenzten zu einer globalen Organisation ausweitete, als Bundeskanzler und als Vorsitzender der internationalen Nord-Süd-Kommission. Jede dieser Aufgaben stellte unterschiedliche Anforderungen an die Methode der Führung. Der Typ eines Diktators wäre gescheitert, selbst wenn er sich demokratisch getarnt hätte.
    Hermann Höcherl, von dem das für einen Bundesinnenminister erinnernswerte Wort stammt, er könne nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen, sagte halb bedauernd, halb anerkennend über Brandt, er sei für das harte Geschäft zu weich. Mit diesem Irrtum stand er nicht allein. Gerade weil Brandt schon in der Emigration gelernt hatte, sich anzupassen, wurde er fähig, ein der jeweiligen Aufgabe entsprechendes Führungsmodell anzuwenden. Seine Antennen verarbeiteten viele Signale, ohne dass der sensible Mann sein Ziel aus den Augen verlor. Viele unterschätzten seine Fähigkeiten und glaubten, ihn manipulieren zu können. Wer ihn »Willy Wolke« nannte, erwies sich als Dummkopf. Brandt ließ sich von der Orientierung, die ihm sein innerer Kompass verlieh, nicht abbringen.
    Wer fast fünfundzwanzig Jahre lang, länger als jeder andere seit Bebel, an der Spitze der SPD stand, der kannte diese Organisation und ihre Mechanismen, der wusste, wann und mit wem er zu telefonieren hatte. Kein Zweifel: Brandt hatte Machtbewusstsein. Ich war dabei, als er Schmidt zum ersten Mal in dessen Amtszimmer im neuen Bundeskanzleramt besuchte und der ihm sagte: »Willy, ich muss dir Abbitte leisten. Ich komme gerade so mit meinen Akten über die Runden und kann nur sagen: Ich weiß nicht, wie du auch noch die Partei gelenkt hast. Das hätte ich nicht gekonnt.« Das hörte Willy natürlich gern. Weniger

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