»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
gern hörte er, als ihm später zugetragen wurde, Schmidt habe es als Fehler bedauert, nicht auch den Parteivorsitz angestrebt zu haben. Kritisch-abwertende Bemerkungen Schmidts ärgerten ihn, verletzten sogar, aber sein Machtbewusstsein blieb davon völlig unberührt. Er wusste und sagte sogar: »Wenn ich wollte, würde Helmut in vierzehn Tagen nicht mehr Bundeskanzler sein.«
Brandts Machtbewusstsein wuchs auch aus dem Wissen, dass er der letzte SPD-Vorsitzende sein würde, der aus der Arbeiterbewegung kam. Er würde wohl für lange Zeit derjenige bleiben, der die Partei zu ihrem größten Wahlerfolg geführt hatte. Er empfand eine Verantwortung für seine SPD und ihre Zukunft, die weit über die Zeit der Koalition, die er durchgesetzt hatte, hinausreichte. Der Vorsitzende musste weiter blicken als der Bundeskanzler, der für den Bestand und die Stärkung der Koalition wirken musste. Schmidt konnte über die Grünen spotten, Brandt wollte sie als möglichen Partner nicht verlieren. Er durfte dem Ansinnen des Kanzlers nicht folgen, Erhard Eppler von seiner Rede auf der Großkundgebung der Friedensbewegung in Bonn abzuhalten. Er wollte und durfte die junge Generation nicht verprellen und musste zugleich den Regierungschef stützen.
Zweifellos hat die Personalunion von Parteiführung und Kanzlerschaft Vorteile, denn die Teilung der Funktionen ist kompliziert und wirft selbst unter der Voraussetzung eines persönlich reibungslosen Verhältnisses zwischen den beiden Führungspersönlichkeiten Entscheidungsfragen auf, die sich aus den unterschiedlichen Interessen der beiden Funktionen ergeben. Bei Brandt hatten wir es mit dem Glücksfall zu tun, dass sein Sowohl-als-auch seiner Natur entsprach. Zwar wurde er für dieses Verhalten kritisiert, aber der Selbstsichere ließ sich nicht beirren. Sein Lebensweg und sein innerer Kompass hatten ihm die bleibende Lehre erteilt: »Entweder oder«, »Freund oder Feind« sind bühnenwirksam oder diktatorengemäß, aber nicht einmal nach einer bedingungslosen Kapitulation ratsam. Und schon gar nicht, wenn man solide demokratische Erfolge erreichen will.
In erlaubter Vereinfachung kann man sagen: Die Politik Brandts bestand in der vielfachen Anwendung des Sowohl-als-auch. Brandt lehnte es immer ab, an geschichtliche Unabwendbarkeiten zu glauben. Zu verkünden, diese oder jene Entscheidung sei alternativlos, hätte er als politisches Armutszeugnis betrachtet. Mit Vernunft und Phantasie begabte Menschen werden stets Auswege finden, wenn sie erfolgsorientiert sind. Der Kompromiss stellt in der Demokratie die Regel dar, sofern es nicht um Gewissensfragen geht.
Diese Grundorientierung prägte auch das gemeinsame Papier von SPD und SED aus dem Jahr 1987, das das übergeordnete Interesse an der Erhaltung des Friedens feststellte. Die gesamte Entspannungspolitik basierte auf dem Prinzip, Stabilität in Europa zu vereinbaren, dabei aber gegenseitige ideologische Bekehrungsversuche zu unterlassen. Niemand wollte mich in Moskau zum Kommunismus verführen, und ich wollte niemanden zur Demokratie bekehren. Und auch Brandt wahrte ruhig und bestimmt seinen Standpunkt, ideologische Unterschiede seien nachrangig. Über die Grenzen würde die Geschichte entscheiden, sofern die Gewaltfreiheit oberstes Prinzip blieb.
Es gibt auch ein passives Sowohl-als-auch, an dem Brandt mitwirkte. Die sozialliberale Koalition widerrief nie die alte Bonner Position, dass zuerst die Einheit, dann die Entspannung kommen müsse, vollbrachte aber das Gegenteil. Sie nahm die alte Bonner Forderung nach deutscher Einheit in den Grenzen von 1937 nie förmlich zurück, schloss aber territoriale Ansprüche ostwärts der Oder-Neiße-Linie praktisch aus. Und auch die Sowjetunion stellte sich nie gegen den Beschluss des Warschauer Pakts, keine Verträge mit Bonn vor einer völkerrechtlichen Anerkennung der DDR zu schließen, unterlief ihn aber praktisch.
Unsere Entspannungspolitik wollte die Realität sowohl anerkennen als auch verändern. Wie erfolgreich sie die Wirklichkeit in Berlin, in Deutschland und in Europa verändern würde, ahnte niemand, als sie nach dem Bau der Mauer mit kleinen Schritten begann. Viele Menschen und Faktoren, auch das schon erwähnte Glück mussten für das Ergebnis zusammenkommen. Ein Faktor lag in der Persönlichkeit Willy Brandts. Mit dem Willen zur Macht ausgestattet, erlag er nie ihrer verführerischen Kraft, machte nie einen Menschen klein oder vernichtete ihn. Er hielt wenig von Beschlüssen
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