»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
zutreffend in die Formel: »Er will nicht bossen.« Lange genug hatte er sich als durch Menschen oder Umstände »gebosst« empfunden. Manchmal hätte ich Willy mehr Härte gegen seine parteipolitischen Widersacher gewünscht. Wenn ich ihm entsprechende Vorschläge machte, sagte er nur: »Das bin ich nicht. Das will ich nicht.«
Als ich ihn bedauernd darauf hinwies, dass er das Machtinstrument der Richtlinienkompetenz nicht anwende, winkte er ab: Das könne man nur einmal anwenden, nämlich um die Koalition zu beenden. »Die Richtlinienkompetenz ist zu Ende, wenn der Partner sich weigert, ihr zu folgen.« Die Erwägung, kurz vor seinem Rücktritt den Innenminister Genscher zu entlassen, verwarf er, weil es das Ende der Koalition bedeutet hätte. Ich erinnerte mich daran, als Angela Merkel die Drohungen Seehofers und die Erpressung Röslers schluckte – bestimmt ohne sie zu vergessen. Keinen von beiden konnte sie entlassen, wenn sie Kanzlerin bleiben wollte. Norbert Röttgen hingegen konnte einfach durch Peter Altmaier ersetzt werden.
Die einundzwanzig Persönlichkeiten der Nord-Süd-Kommission, die aus Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern kamen, waren es gewohnt, Weisungen zu geben, nicht aber entgegenzunehmen. Die Repräsentanten unterschiedlicher Interessen und unvereinbarer Überzeugungen konnten nur durch die Suche nach einem gemeinsamen Nenner zusammengeführt werden. Versuche, durch Abstimmungen Mehrheiten zu erreichen, hätten die globale Kommission platzen lassen. Willy Brandt verband Autorität und Glaubwürdigkeit, auch nach langen und quälenden Debatten, um den gemeinsamen Nenner zu formulieren. Was fair ist, verstehen alle.
Diese Eigenschaften, die Brandt verkörperte, bildeten einen Teil dessen, was Charisma genannt wird. Es ist nicht käuflich zu erwerben. Kein Parlament oder Staatsoberhaupt kann Charisma wie einen Orden verleihen. Weder Armut noch Reichtum prädestinieren dafür; eine gewisse Robustheit ist Voraussetzung. Wir wissen nicht, wie viele Menschen ihr nie entfaltetes Charisma mit ins Grab nahmen, weil sie an den Schwierigkeiten ihrer Jugend zerbrachen. Also gehört auch Glück dazu. Und Glück musste Brandt mehrfach haben, um nicht wie andere an Hindernissen zu scheitern oder etwa bei illegalen Besuchen im »Reich« gefasst zu werden. Zum Charisma gehören auch Mut, den er immer wieder bewies, und die Kraft, nach Niederlagen wieder aufzustehen. Doch auch wenn es möglich wäre, das alles so zu mischen, dass dabei ein Mephisto oder Faust herauskäme, wäre Charisma nicht garantiert.
Intuition gehört dazu – einer plötzlichen Eingebung zu folgen, dass Kranzniederlegen nicht reicht, und niederzuknien. Von Warschau führte der Weg zum Friedensnobelpreis. Er bedeutete für Brandt, von allem anderen abgesehen, seine Befreiung zur Normalität des »Ich«. Schon in Berlin hatten Albertz und ich Brandts Scheu beobachtet, »ich« zu sagen. Er sprach von »man« oder »wir« oder umschrieb, was »nötig« oder »wünschenswert« sei. Während der Jugendzeit und in der Emigration hatte er gelernt, vorsichtig und möglichst sachlich zu formulieren. Das »Ich« blieb besser unausgesprochen. Das gab dem Stil des Regierenden Bürgermeisters und selbst noch des Außenministers etwas Schwebendes, Unbestimmtes. Wir vermissten den klaren Führungsanspruch. »Es gibt gute Gründe« ist eben weniger als »Ich möchte« oder gar »Ich will«.
Die Rede, mit der er den Friedensnobelpreis annahm, markierte einen erstaunlichen Einschnitt in seinem Redestil. Ich war beglückt, mit welcher Selbstverständlichkeit er plötzlich das »Ich« in seine Rede hineinkorrigierte. »Und wenn ich dies hinzufügen darf: Wie viel es mir bedeutet, dass auf meine Arbeit ›Im Namen des deutschen Volkes‹ abgehoben wurde. Dass es mir also vergönnt war, nach den unauslöschlichen Schrecken der Vergangenheit den Namen meines Landes und den Willen zum Frieden in Übereinstimmung gebracht zu sehen.« Hier wurde einer für sein Land ausgezeichnet, dessen Lebenslauf keinerlei Makel mehr beigemischt war. Darauf konnte er stolz sein, und er war es ohne jede Überheblichkeit. Der Nobelpreis gab dem Freund die Selbstverständlichkeit seines Selbstwertgefühls, das er zwar besaß, aber nicht zeigte.
»Er hatte mehr Intuition im Hintern als andere im Kopf« – diese etwas deftige Formulierung entspricht auch heute noch meiner Auffassung. Aber die unentbehrliche Gabe der Intuition erklärt nicht hinreichend das Phänomen
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