Das Musterbuch (German Edition)
ständig vor Augen haben! Seine erste Engel-Pietà! Dieser Typus würde in Venedig vielleicht eines Tages Furore machen.
Es war schon spät geworden, so dass alle Einkäufe unmöglich waren. Giovanni hatte Hunger und nahm seine mantella , um sich an den Familientisch im Hause seines Vaters zu begeben.
Dort angekommen war er überrascht, immer noch den alten Antonio zu erblicken. " Ciao, musicista ", wurde er von jenem neckend begrüsst. Vater und Bruder freuten sich, dass die Männerrunde vergrössert wurde. "Sprecht ihr etwa über Kunst oder über Politik?" Giovanni hatte noch Wortfetzen eines Plädoyers aus dem Munde seines Vaters für die gute alte Regierung aufgeschnappt. "Bevor wir über Kunst plaudern, zeig' du erst, was du Neues im Skizzenbuch hast." Der Vater öffnete das Büchlein, das Giovanni auf der Bank neben sich abgelegt hatte. Zum Vorschein kamen seine eigenen Skizzen der 'Beweinung Christi', die Giovanni ihm zurückgeben wollte. Daneben sah er Giovannis neuartige Interpretation des Themas. "Zwar hast du dich von der Formel deines Vaters distanziert - wusstest du aber, dass Antonio in einem Allerheiligen-Altar in Padua fast dieselbe Konstellation fand, wie du hier: aber statt der Engel, wie bei dir, setzte er Christus zwischen Johannes und Maria." Antonio musste schmunzeln, als ihm sein Werk von damals in Erinnerung kam. "Ja", setzte dieser das Gespräch fort, "aber um wie viel mehr Leidenschaft vermag dein Sohn in diese Szene zu legen. Uns, lieber Jacopo, fehlt wohl leider das Pathos der Jugend!"
***
"Da sind wir wieder bei meinem Lieblings-Thema: renovatio ! Es muss sich etwas in der Kunst tun...." begann Giovanni stürmisch. Gentile, der wohl ahnte, in welche Richtung dieses Gespräch führen könnte, wendete sich an die beiden Älteren und schwenkte um: "Wie sieht es eigentlich mit der Erneuerung unseres politischen Systems aus?" In diesem Moment klopfte es an der Tür und Bartolomeo trat ein. "Melde gehorsamst: dein Sohn ist abgegeben und deine Frau ahnt schon, dass die Venezianer dich heute nicht mehr loslassen werden!" "Tritt näher, lieber Neffe, und nimmt dir vom pollo- Braten aus der Pfanne." Schnell hatte Anna, die hin und wieder in den salone schaute, Becher und Teller vor Bartolomeo gestellt. Der kleine Niccolò, mit seinen nunmehr sechs Jahren, nicht mehr am Rockzipfel sondern nur noch hinter dem Rock seiner Mutter stehend, schaute die grossen Männer neugierig mit grossen blauen Augen an.
Gentile griff nach kurzer Zeit den Diskussionsfaden wieder auf. "Papst Pius ist seit acht Wochen tot. Das bedeutet für den Krieg gegen die Türken nichts Gutes. Wir haben keine Unterstützung mehr aus Rom. Feldzüge der Osmanen könnten uns Kopf und Kragen kosten. Wir haben mit Verlusten in der Ägäis sowie in Albanien zu rechnen."
Das Interesse des jungen Malers am Geschehen im Türkenkonflikt hatte pragmatische Gründe. Gentile wollte der Republik Venedig als Maler dienen; dies ging nicht, ohne politisch informiert zu sein oder gar sich politisch zu betätigen. Ein erster Versuch war seine Kandidatur als Vikar der Scuola di San Marco, eine Wahl, auf die sogar der Zehnerrat des Dogenpalastes indirekt Einfluss hatte.
"Übrigens: morgen gibt der Zehnerrat ein Fest im Dogenpalast. Zur Information und Verbreitung ihrer Initiativen in Sachen Reform. Wer kommt mit?" Gentile ging gern auf öffentliche Veranstaltungen, weil er sich dabei neue Aufträge erhoffte. Da sein Bruder nicht gleich einstimmte, lockte er ihn mit noch mehr: "Ich hörte, es kommen die schönsten Jungfrauen der Serenissima...“. „Diese Frage ist wohl eher an die jüngere Generation gerichtet". Damit erhob sich Jacopo, wies dem Freund Antonio seinen Schlafplatz in der Kammer nebenan zu und verabschiedete sich von der Jugend. Kurz darauf verliess auch Giovanni das Elternhaus. Ein kühler Wind ging durch die calle der Serenissima, der Herbst kündigte sich bereits an. Damit würden auch die Farben der Stadt wechseln. Es dominierten dann mauvefarbene Töne, Rostrot und Safrangelb. In Gedanken begann er, einen Landschaftsraum zu skizzieren. Wie angenehm überrascht er war, als er Elena vor seiner Tür antraf! Sie schien verstört und sehnsüchtig. Auch er hatte in dieser Nacht nur eines im Kopf: ihre Nähe zu spüren!
Ganz früh am morgen verliess sie auf leisen Sohlen das Atelier Bellini in San Lio.
Später erst erwachte Giovanni durch ein Pochen an die Tür: " Chi è ?" "Ich bin Andrea. Andrea Busati". Giovanni warf sich nur
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