Das Musterbuch (German Edition)
eine Decke um die Hüften, öffnete die Tür und schaute überrascht auf einen jungen Kerl von etwa 10 Jahren, der vor ihm stand. "Ich möchte bei Ihnen lernen, maestro Bellini. Hier sind meine Referenzen", dabei drückte der ihm einen Stapel Papiere in die Hand.
Giovanni studierte erst diese, dann den Jüngling, der inzwischen näher getreten war und neugierig die Augen im Atelier wandern liess. " Bene , nachher kommt ein Gehilfe aus Padua namens Lauro und wird Ordnung bei mir machen. Du darfst ihm für heute über die Schulter schauen, vor allem beim Anmischen der Farben. Morgen will ich mit dir eine Probestunde wagen. Sei von zehn Uhr bis 16 Uhr bereit und hole mir für’s Erste frisches Brot und Obst vom Marktstand vor dem Haus." Er warf ihm ein paar bolognini hin und als der Junge den Raum verliess, nutzte Giovanni die Zeit, Hemd, Hose und Schuhe anzuziehen.
Kaum waren sich Lauro und Andrea vor der Tür Giovannis begegnet, hatten sie gleich miteinander zu plaudern begonnen. ' Gutes Omen', dachte Giovanni und instruierte den Älteren über die Aufgaben des Neuen .
Damit verliess er das Haus und war - die Luft vor der Türe schnuppernd - froh, den Wollmantel intuitiv gegriffen zu haben.
***
Er hielt einen Apfel in der Hand und schaute zum Marktstand hinüber, hinter dem eine Alte mehrere dieser feinen Obstsorten feilbot. " Prendo un'altro ", gern wollte Giovanni einen Reserve-Apfel für den noch unbestimmten Weg zur Inspiration seiner neuen Studien. "Sie sind aber gierig", kommentierte eine hübsche, noch recht junge Signorina neben ihm, die sich prüfend über die Melonen beugte. Sie trug ein grünes Samtjäckchen, zugeschnürt mit zartgelben Bändern. Die Haare hatte sie ohne Bedeckung einfach nach hinten gebunden. Hellblaue Augen fixierten dabei mal die eine, mal die andere Frucht. "Darf ich Ihnen behilflich sein?" Giovanni war an diesem Morgen zum Scherzen aufgelegt. "Aussen weich innen süss, aussen hübsch und hart, innen noch fade. Nehmen sie zwei, eine für heute, eine weitere für morgen. So halten Sie es wie ich: einen zum Anschauen, den anderen zum Verzehr." "Sie aber haben offenbar mehr Lust am Zubeissen, denn am Hinschauen." "Alles zu seiner Zeit, Signorina". Giovanni war selbst überrascht, wie locker ihm die Flirterei fiel, und das nach den vielen Stunden des Grams. "Aber als Maler darf ich wohl von mir behaupten, dass ich das Hinschauen erlernt habe. Giovanni Bellini, begehrtester Junggeselle der venezianischen Malerzunft." "Ginevra Bocheta, bin erfreut Sie kennenzulernen. Jetzt muss ich aber gehen, bevor sie noch um ein Porträt bitten..." und schon war sie verschwunden. " due bolognini ", dröhnte eine rauhe Stimme nahe seinem Ohr; beinahe hätte Giovanni vergessen, seine Äpfel zu bezahlen.
Giovanni ging weiter zur piazza San Marco , eng in seinen Mantel geschlungen. Zunächst durchschritt er die auf-und absteigenden Mosaikböden der linken Seitenarkaden. Erst im heiligen Kirchenraum wurde ihm wieder warm. Gold, überall Gold, wohin das Auge auch reicht. Giovanni nahm sich vor, die Mosaiken in sich aufzusaugen.
Die Mascoli-Kapelle, ausgestattet von Andrea del Castagno, von seinem Vater und von Andrea Mantegna, faszinierte ihn sehr. Oben die Verkündigung, noch von Giambono, dann die Begegnung mit Elisabeth, von seinem Vater und Mantegna und die Apostelgruppe von Andrea del Castagno. Und was für ein Triumphbogen!
Ganz hinten im Chor der Hochaltar mit den Gebeinen des Heiligen Markus, und dann noch das Juwelstück: die Pala d'Oro, eine meisterliche Goldschmiedearbeit, eines der vielen Beutegüter der italienischen Kreuzzüge. Die Tabernakel-ähnlichen Ornamente wiesen darauf hin, dass das Werk heimische, venezianische Künstler vervollständigten. Säulen aus Alabaster trugen das Ziborium mit den Reliefs griechischer oder ägyptischer Herkunft.
Die Farbigkeit der Glasfenster evozierte zusätzlich eine Stimmung unbeschreiblicher Spiritualität. Kupferrubinglas und Kobaltblau: per lumina vera ad verum lumen . Giovanni setzte sich in eine Kirchenbank und meditierte über das verum lumen , das wahre Licht, zu dem die Gläubigen streben, wenn ihre Herzen schwer waren.
Auf einmal traten mehrere Chorknaben ein und stimmten ein credo an. Danach war alles wieder still und die Sänger verschwanden bereits wieder hinten in der Sakristei.
Giovanni öffnete sein Skizzenbuch. Hier eine tanzende Salomé, dort ein Kruzifix mit dem toten Christus, Christus in der Glorie, der Pantokrator: der
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