Das Musterbuch (German Edition)
nicht aufrichten zu können, oder die der Neider, deren Kleider nicht vom Boden zu unterscheiden waren?
Weder gut noch böse – die Figuren in der Vorhölle Dantes hatten eigentlich keine Moral. Etliche Frauen waren der Zauberei verfallen, unter ihnen auch die mythische Manto, nach die Stadt Mantua ihren Namen hat. Er umkreiste das Plateau und gelangte vor ein Tor. Hier wurde mit dem Wappen der Maltesta, mit Köpfen im Profil, umgeben von Rautenmustern, ein Besitzanspruch markiert. Wie war noch gleich die Inschrift auf dem Tor zur Hölle? Da fiel ihm der dritte Gesang in Dantes Opus magnum ein: „Durch mich geht man hinein zur Stadt der Trauer,
Durch mich geht man hinein zum ewigen Schmerze,
Durch mich geht man zu dem verlornen Volke.
Gerechtigkeit trieb meinen hohen Schöpfer,
Geschaffen haben mich die Allmacht Gottes,
Die höchste Weisheit und die erste Liebe
Vor mir ist kein geschaffen Ding gewesen,
Nur ewiges, und ich muss ewig dauern.
Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!“
Nein, Andrea kehrte um, denn er glaubte nicht, hier seine verloren gegangenen Blätter mit den Inspirationen wiederzufinden. Wo aber sollte er diese nun suchen? Ihn erfasste eine unendliche Trostlosigkeit.
Kapitel XVIII
Bartolomeo stürmte in das Atelier seines Freundes: "Es ist bereits Mittag lieber Freund, und du wolltest mich doch am Morgen zur Musik-Lektion abholen. Giovanni fiel es wie Schuppen von den Augen. Im Collegio Santa Maria Famosa hatten sich die beiden Freunde nach Musikstunden erkundigt; sie wollten beide lyra- Spielen lernen. "Hopp, hopp“, Bartolomeo warf ihm Hosen und Jacke zu und im Nu standen sie auf dem Campo Santa Marina und durchquerten behände den sestiere .
Im Collegio herrschte eine Unruhe wie im Hühnerstall. Der Raum war gross und durch Säulen geteilt. Die Wände zeigten das für Venedig typische spatolato , eine Gipsschicht in Farbnuancen, welche Marmor vortäuschten. Die Akustik hierin war enorm tragend. Überall standen oder lagen Instrumente herum. Viele ihnen unbekannte Gesichter sassen allein oder in Grüppchen zusammen schwatzten oder musizierten. Gentile schaute hinaus und zwinkerte seinem Freund zu, als sie auf eine Gruppe junger Novizinnen aufmerksam wurden, die vor der Fensterfront zu einem geistlichen Gesang anstimmten.
Giovanni zog es unwillkürlich an diese Fensterseite. Nach einem lieblichen canzone dell'amore vernahm Giovanni einige Gesprächsfetzen der jungen Frauen "Seid ihr auch zu Elenas Hochzeit eingeladen?" Giovanni wandte sich brüsk ab. Da trat ein Mann von etwa 30 Jahren in die Mitte der Musiker und jungen Leute und rief: "Diejenigen von euch, die sich zum neuen ' corso strumentale ' gemeldet haben, bitte ich, mir in den kleinen Salon zu folgen. Die 'Alten' werden später von maestro Guido abgeholt".
Bartolomeo zog seinen Freund mit sich und sie nahmen Platz im Kreise der Wiss-und Lernbegierigen. Es waren alles junge Männer, wie sie schnell herausfanden. Der Lehrer rief sie Anwesenden mit Familiennamen auf: Bellini, Canareggi, Cipriani, Cortelli, Morosoni, Onelli, Venusti und Vivarini. Nachdem alle ihre Anwesenheit bestätigt hatten, ging die Tür auf. 'Ah, maestro Vivarini, bringen sie mir noch ihren begabten Sohn?" In der Tat hatte Antonio Vivarini seinen Jüngsten, Alvise bei sich, der sich neben seinen Onkel Bartolomeo setzte. Giovanni zwinkerte ihm zu. Der Lehrer begann seine lezione .
"Der lateinischer Grammatiker Priscian überlieferte uns einen Teil eines griechischen Verses: onomályton orphen .
Orpheus war der Sohn der Muse Kalliope und des Flussgottes Oiagros. Er verzauberte mit seinem Gesang und seinem Kitharaspiel Menschen, Tiere und Pflanzen. Er begleitete die Argonauten nach Kolchis am Schwarzen Meer, um das Goldene Vlies zurückzuholen. Als er sich den Sirenen näherte, übertraf er ihre honigsüssen Stimmen durch seinen Gesang.
Der griechische Begriff musiké schliesst neben Gesang und Instrumentalspiel auch den Tanz und die Poesie mit ein. Orpheus, der 'Magier' der musiké war aber auch Vermittler vom irdischen Leben und der Unterwelt, die er als Geliebter der Eurydike erblickte. Hierin liegt der religiöse Charakter der nach Orpheus benannten Orphik begründet.
Ich will euch mit meinem Musikunterricht in diese göttliche Kunst einführen im Bewusstsein darüber, dass sie in uns allen steckt und nur zutage treten muss. Wir werden jedes Mal über Poesie sprechen und werden auch miteinander tanzen.“ Die jungen Männer verzogen das
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