Das Musterbuch (German Edition)
Gesicht. „Vor allem aber sollt ihr euch musikalisch durch eure Instrumente ausdrücken.
Auf den Tisch an der Wand seht ihr eine Vielzahl an Instrumenten: Eine Aulos, Panflöten, Lauten oder verschiedene Lyren. Greift euch bitte eines der Instrumente und verteilt euch in die angrenzenden Räume. Ich werde euch einzeln aufsuchen und einführen. Zur Unterstützung habe ich einige Assistenten, die euch im Raum erwarten."
Damit waren die jungen Musiker für's erste entlassen. Giovanni hatte während der Ansprache in sein Skizzenbuch gezeichnet: das junge, kappenartig-bedeckte Köpfchen des hübschen Alvise, umgeben vom Alten, kahlköpfigen Antonio und den Neffen Bartolomeo, der Alvise etwas zu weisen schien. "Was hält der junge Mann auf dem Blatt in den Händen? Doch nicht etwa Noten?" Bartolomeo war neugierig geworden. "Ja", Giovanni hoffte, der Freund würde nicht die Porträts identifizieren. "Es scheint mir, du hast den jungen Orpheus in der Unterrichtung der Musik gezeichnet, so jedenfalls würde es unser neuer Lehrer gern sehen!". Antonio verabschiedete sich mit den Worten, dass er Jacopo, dem Vater Giovannis, nachher von den begabten Musikern berichten wolle. Er habe ihm nämlich noch einen Besuch abzustatten.
Kapitel XIX
Im Atelier herrschte mittägliche Ruhe. Jacopo hatte sich auf eine Pritsche neben dem zugezogenen Fenster gelegt, welches er vor der Mittagssonne durch einen Vorhang verschlossen hielt. Er schnarchte leicht, als Antonio Vivarini eintrat und Blickkontakt mit dem älteren Sohn, Gentile aufnahm, um ihm zu signalisieren, dass er ein anderes Mal hineinschauen werde. Dieser flüsterte: " Il Babbo würde mir nicht verzeihen, ihn nicht bei so hohem Besuch geweckt zu haben!" Prompt erwachte der Alte, als er die wispelnde Stimme seines Sohnes vernahm. " Che c'è ? Ah, Antonio, vieni !" Immer noch bester Kondition war er mit einem Satz aufgesprungen und umarmte den Freund. Gentile beauftragte er, frisches Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen und eine gute Flasche aus der Taverna mitzubringen. "Schau dich nur um" Jacopo verfolgte den neugierigen Blick des Meisters von Murano. "Sind sie nicht ganz meine Söhne?" Antonio blieb vor dem Bildnis des Lorenzo Giustiniani stehen, soeben vollendet vom Sohn Gentile für die Kirche Madonna dell'Orto. "Was für eine Portaiture! Dein Sohn wird, wenn er so weiter macht, eines Tages einer der gefragtesten Porträtisten der Stadt sein!" Antonio hatte Recht mit dieser Prognose, denn Gentile sollte noch Jahre später Berühmtheiten wie die Dogen Nicolò Marcello und Andrea Vendramin im Bildnis festhalten.
Die eingefallenen Wangen des schon seit neun Jahren Verstorbenen ersten Patriarchen von Venedig hatte er von den Skizzen des Vaters übernommen und mit monochromen Temperafarben die Mortalität der berühmten Kultfigur eingefangen. Dazu kamen die beiden Knienden in Blau, die eine Verbindung vom Dies-zum Jenseits schufen; auf Letzteres wiesen die ebenfalls monochrom gehaltenen Engel hin.
"Und in San Marco kannst du die schönen Flügelbilder von Gentile an der Orgel bewundern! Vier Heilige von seltener Schönheit!" Aus des Vaters Worten sprach Stolz und Anerkennung. "Aber auch deine Familie bringt grosse Maler hervor. Lass mich von deinem Jüngsten, Alvise hören!" Währenddessen hatte Gentile den Wein und das Wasser mit zwei Bechern auf dem Tisch abgestellt und war schon wieder verschwunden. Die garzoni , welche sich nach und nach zur Nachmittagslektion einfanden, fing er vor der Türe ab, um mit ihnen 'Antikenstudien' am Portal von San Marco vorzunehmen. Sein Ziel waren die vier Kaiser, Tetrachen , aus dem 4. Jahrhundert, auch als Sarazenen gedeutet, die der Heilige Markus bestrafte, weil sie den Kirchenschatz stehlen wollten, und sie der Legende nach in Stein verwandelte.
"Alvise hat noch kein selbständiges Werk geschaffen - so wie deine Söhne es haben. Er hängt entweder mir am Rockzipfel oder er hält sich in der Werkstatt Lazzaro Bastianis auf, was ich für gut halte!"
"Später werde ich ihn einer Scuola übergeben. Berichte mir von deinen Erfahrungen der Scuolen in Venedig".
"Da beginne ich am besten mit meinen eigenen Erfahrungen als Dekan für die Scuola San Giovanni Evangelista.
Die Malerzunft ist, wie du weisst, integriert in den Kreis weiterer Zünfte. Dies hat Vor-wie Nachteile. Meiner Meinung nach sind ihre Bedürfnisse unterschiedlichster Art, so dass die eine Zunft nur wenig der anderen dient. Ganz anders in der Scuola . Dort werden die
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