Das Musterbuch (German Edition)
Maler mit Ihresgleichen bekannt gemacht und den nächststehenden Berufsständen: Goldschmieden, Handwerkern jeder Art, die auch dem Malerhandwerk gleichzustellen ist, angegliedert. Es werden Aufträge untereinander weitergereicht und vermittelt; es finden regelmässig Treffen statt, die über die Auftragslage der Serenissima ein Bild geben. Meine Söhne gehören der Scuola Grande di San Marco an. Caritas steht an oberster Stelle, so dass die Reicheren die Beiträge von den Jüngeren übernehmen. Giovanni ist darüber hinaus Mitglied der kleinen Scuola Piccolo di San Cristoforo dei Mercanti. Die Bedeutung des Heiligen Christophorus für unsere Familie illustriere ich dir anhand ein paar schöner Skizzen, die ich für meine Schüler und Freunde, wie Andrea Mantegna, den ich bald in Mantua besuchen möchte, vor allem aber für meine Söhne anfertigte. Schau einmal."
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Jacopo schlug eine Mappe mit Skizzen auf, die von hervorragender Qualität waren. Krampfhaft hielt sich der junge Christusknabe im Haar des eher menschlichen als übermenschlich starken Christophorus - einst gigantischer Riese Ophorus, der nach dem Tragen des Jesuskindes auf den Schultern über den Fluss zum Heiligen wurde - fest. Dieser Riese, entspannt die rechte Hand in der Hüfte geknickt, als wäre ihm keine Last zu schwer, steht da mit leicht geöffnetem Mund, auf das wir von oben blicken. Mehr phantasievoll orientalisch als realistisch ist der Landschaftskranz im Halbrund wiedergegeben. "Na, schwer scheint der Kleine ja nicht zu sein, sondern eher wirbelig, vielleicht so wie einst deine Söhne, Jacopo, vor allem dein Jüngster?" Antonio hatte seinen jugendlichen Humor behalten; das machte ihn so überaus sympathisch!
"Vielleicht ist es das Beste, sich aus dem Alltag inspirieren zu lassen", entgegnete Jacopo, "aber nun noch zwei Worte zur scuola . Auch mein Neffe Leonardo gehört einer scuola an, und zwar derjenigen von San Rocco. Du weisst, dass vor allem religiöse Motive diese Bruderschaft prägt. Wähle also behutsam aus und sei versichert, dass meine Söhne sich gern deines Alvise annehmen werden, wenn du es wünscht." "Na, ja, im Moment musiziert dein Giovanni zusammen mit ihm und Bartolomeo im Collegio und ich bin gespannt, ob wir eines Tages in den Genuss eines gemeinsamen Hauskonzertes kommen." Antonio und Jacopo verbrachten einen vergnüglichen Nachmittag und der Venezianer liess es sich nicht nehmen, den Muranesen zum Nachtessen in sein Haus einzuladen. Anna war es gewohnt, schnell ein gutes Mahl für einen Gast zu servieren.
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Währenddessen hatten sich die Musiker-und Maler-Freunde vor der Türe Giovannis verabschiedet. Bartolomeo hatte seinen Neffen noch nach Murano zu begleiten. Giovanni, dem die Abwechslung unter den Musikern gut tat, verfiel aber, kaum an der Staffelei sitzend, wieder in Gram und Pein. ' Zorn und Pietà ist das Einzige, was ich zurzeit empfinden kann , dachte er bei sich und begann unwillkürlich, den toten Christuskörper mit nach vorn gekipptem Haupt zu zeichnen. Muskulös und sehnig waren seine Arme, die Mutter Gottes umschlang ihn dabei innigst...
Er nahm nun noch eine Variante vor, in welcher Christus von zwei Engeln liebevoll gehalten wurde. Im rechten Engel wollte er ein im bekanntes Gesicht zeichnen: sie war es, doch sie drehte sich weg und schaute hinter den Leichnam. ' Eine Bilderzählung wird dann das Gemüt bewegen, wenn die darin gemalten Personen ihre eigene Gemütsbewegung heftig ausdrücken ', CON SUO VISO ET GESTO ', Giovanni kannte diese Passage aus Albertis 'De pittura' auswendig. Er erinnerte sich an die gute alte Ikone, die oftmals einen emotionslosen Christus zeigte. Zu diesem Thema hatte er einen Stapel Skizzen seines Vaters aufbewahrt: Christus umgeben von seinen lieben Freunden und seiner Mutter, aufrecht stehend und die Arme Christi haltend oder küssend. Vaters Blatt wirkte wie ein Handlungsausschnitt, so da einem die ganze Geschichte der Passion in Erinnerung kam. Wie unrealistisch war dagegen ein anderes Blatt von ihm: Maria stand zusammen mit ihrem Sohn im Sarkophag; jede Gruppe der sieben Figuren hatte ihre Entsprechung in einem phantasievollen Bergwipfel im Hintergrund.
Die Übertragung seiner eigenen Skizze auf eine kleine Holztafel von 72 x 67 Zentimetern fiel Giovanni heute Abend leicht. Diese Tafel wollte er in das Vinzenz-Altarbild setzen, als dessen Krönung! Nein besser noch, zwischen den Engel und die Mutter Maria: so sollte Letztere den Leidenden
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