Das mysteriöse Pergament 01 - Begegnungen (German Edition)
die
Priorin sich abwenden musste, um ihr Grinsen zu verbergen, das sich auf ihrem
Gesicht breit machen wollte. Aber dann hatte sie ihre Gesichtszüge wieder unter
Kontrolle.
„Was soll bloß mit dir werden, mein Kind“, seufzte Schwester
Ita traurig. „Seit der Herr Schwester Irmhilde zu sich genommen hat, bist du
aufmüpfiger denn je.“
Traurig senkte Line den Kopf, als sie an Schwester Irmhilde
dachte, die zu ihr immer wie eine Mutter war. Von ihr hatte sie alles gelernt,
was sie wusste. Seit die alte Nonne vor einigen Wochen gestorben war, kam Line
sich einsam und verlassen vor.
Die Priorin behandelte sie noch immer wie ein kleines Kind,
obwohl sie fast sechzehn Jahre alt war. Aber Line störte das nicht.
Ita von Weckenstein hoffte, Line würde es lernen, die strengen
Regeln des Klosterlebens zu akzeptieren und ihre Berufung finden. Sie war jetzt
erwachsen und sollte bald den Schleier nehmen. Da sie keine Verwandten hatte,
blieb ihr gar nichts anderes übrig.
Fast alle Nonnen im Kloster Wald waren aus adligen Häusern.
Gehorsam und Beherrschung ihrer Gefühle war ihnen schon vor dem Klosterleben
eingebläut worden. Die wenigsten von ihnen gingen freiwillig ins Kloster, sie
waren von ihren Familien oder Ehemännern an den Konvent übergeben worden, unter
Zahlung einer zum Teil erheblichen Mitgift.
Line hingegen war ein Findelkind. Irmhilde hatte sie an
einem kalten Wintertag vor dem Tor des Klosters gefunden, als sie von einem
Krankenbesuch in der Stadt zurückgekommen war. Das kleine Mädchen hatte auf dem
kalten Boden gekauert, unterernährt und halb erfroren.
Im Kapitelsaal konnte sie gegen den Widerstand einiger
Nonnen die Aufnahme der Kleinen in das Kloster durchsetzen und nahm sie in ihre
Obhut.
Von Anfang an half ihr das Mädchen im Infirmarium, dem
klostereigenen Spital, dem Irmhilde vorgestanden hatte. Es lag außerhalb der
Klausur und verfügte über zwei Krankensäle, einen Baderaum, mehrere kleineren
Kammern für Schwerkranke und pflegebedürftige Schwestern des Konvents, eine
Apotheke und eine eigene kleine Küche.
Hier wurden nicht nur erkrankte Nonnen, Novizinnen und
Laienschwestern, sondern auch Reisende und Kranke aus der Umgebung behandelt.
Line stellte sich bei der Versorgung der Kranken erstaunlich
geschickt an. Sie versorgte ihre Wunden, wusch und fütterte sie und spendete
ihnen Trost. Immer fand sie freundliche Worte.
Irmhilde lobte sie gegenüber der Äbtissin in den höchsten
Tönen.
Auch Ita, die sich oft im Krankensaal aufhielt um Trost zu
spenden oder die Beichte abzunehmen, beobachtete mehrmals, wie Line mit ihrer
freundlichen Unbekümmertheit die Kranken sogar in aussichtslosen Fällen
aufmunterte und ihnen Lebensmut gab.
Manchmal legte Line Schwerkranken beide Hände auf den Leib
und sang dabei einen Singsang in einer fremden Sprache. Diese Behandlung schien
den Patienten erstaunlicherweise zu helfen und deshalb hatte sie das Mädchen
gewähren lassen. Die Genesung der Patienten lag natürlich in Gottes Hand, aber
dieses Mädchen schien eine besondere Gabe zu haben, die den Heilungsprozess
beschleunigte.
Wenn Line nur etwas mehr Demut und Disziplin hätte. Es war
nicht der erste Streich, den das ungestüme Mädchen ausgeheckt hatte.
Ita konnte sich noch gut daran erinnern, wie Line Schwester
Clara heimlich Abführmittel ins Bier tat, weil diese das Mädchen gezüchtigt hatte,
als sie wegen einer Magenverstimmung zu spät zum Unterricht gekommen war. Die
nächsten drei Tage verbrachte die arme Clara damit, zwischen dem heimlichen
Gemach und der Bibliothek hin und her zu laufen. Dabei hätte sie sich fast das
Hinterteil verkühlt und sich eine Blasenentzündung geholt, denn es war Winter
und sehr kalt auf dem Abort.
Zu ihrer Rechtfertigung führte Line mit Unschuldsmine an,
Schwester Clara hätte jetzt sicher mehr Verständnis für gewisse unaufschiebbare
menschliche Bedürfnisse.
Die Priorin seufzte. Sie musste strenger sein mit dem
Mädchen, sonst würde es Line in ihrem künftigen Klosterleben umso schwerer
haben.
*
Wenige Monde später saß Line an einem Sonntag auf der Wiese
an der Klostermauer und kaute Gedanken versunken auf einem Grashalm. Es war ein
für die Jahreszeit ungewöhnlich warmer und sonniger Tag, der blaue Himmel war
mit weißen Wolken betupft.
Sie befand sich außerhalb der von einer hohen Mauer
umschlossenen Klausur. Hier im Außenbereich des Klosters, der nur von einer
niedrigen Mauer umgeben war, ging es
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