Das mysteriöse Pergament 01 - Begegnungen (German Edition)
Studium zweifelhafter Werke zu
vertrödeln.
Line indes verfolgte eigene Pläne. Es fiel ihr nicht schwer,
sich heimlich aus alten Kleidungsstücken zwei Unterhemden und ein Kleid zu
nähen, wie sie die Bauernmädchen trugen, dazu einen passenden Überwurf mit
Kapuze. Diese Kleidungsstücke hatte sie bei den Bäuerinnen gesehen, die das
Hospital nicht selten aufsuchten. Zeit hatte das Mädchen genug, denn während
der kalten und nassen Jahreszeit konnte sie nicht an Flucht denken.
Die Wochen gingen ins Land und der Sommer kündigte sich
bereits an, als das Mädchen endlich alle Vorbereitungen getroffen hatte, ihren
Plan in die Tat umzusetzen. Heimlich holte sie ihre selbst genähte Kleidung aus
einem Versteck in der letzten Ecke der Kleiderkammer, packte alles in eine
Ledertasche und deponierte diese hinter einem dichten Busch im Kräutergarten.
An diesem Abend bot sie an, in der Küche zu helfen, wo sie
in einem unbeobachteten Moment noch einen halben Laib frischen Brotes sowie
etwas Wurst und Käse unter ihrer Kutte verschwinden ließ.
Heute Nacht würde sie das Kloster für immer verlassen.
Als sich die Nonnen nach der Komplet endlich zum Schlafen
legten, wurde Line langsam immer unruhiger. Sie versuchte, sich nichts anmerken
zu lassen, kniete vor ihrem Bett, um wie jeden Abend ein kurzes Gebet zu sprechen
und legte sich dann wie alle anderen auch schlafen.
Die Stunden schienen nicht vergehen zu wollen. Line
versuchte, sich die Zeit zu vertreiben, indem sie begann, im Stillen alle
möglichen Heilkräuter und deren Wirkungsweise herzusagen. Endlich war es kurz
vor Mitternacht. Line stand auf und schlich sich aus dem Dormitorium. Falls sie
jemand bemerken sollte, wollte sie vorgeben, das heimliche Gemach aufsuchen zu
müssen.
Aber sie hatte Glück. Die Nonnen und Novizinnen schliefen
tief und fest und niemand bemerkte das Mädchen. Leise schlich sie durch die
menschenleeren Gänge des Klosters und erreichte unbehelligt den Kräutergarten.
Schemenhaft sah sie die von Heilpflanzen und Kräutern gesäumten Wege im fahlen
Mondlicht. Aber sie hätte den Weg auch in völliger Dunkelheit gefunden.
Dicht an die Mauer gedrückt und mit klopfendem Herzen
schlich sie zu dem Gebüsch, in dem sie ihre Sachen versteckt hielt. Als sie
sich noch einmal zu dem dunklen Gebäude umsah, sah sie erschrocken hinter einem
Fenster im ersten Stock Licht. Dort befand sich das Zimmer der Äbtissin, die
oft bis in die Nacht hinein las oder Korrespondenz erledigte. Wenn sie jetzt
zufällig aus dem Fenster sah, würde sie Line vielleicht entdecken.
Aber nun gab es kein Zurück mehr. Line raffte die Tasche an
sich, schlich zu der kleinen Pforte und schob den eisernen Riegel zurück. Das
leise Quietschen klang in ihren Ohren so laut, dass sie fürchtete, die Äbtissin
könnte es hören. Line hielt den Atem an. Aber alles blieb ruhig.
Schnell schlüpfte das Mädchen durch die schmale Pforte und
schloss sie hinter sich.
Im nächsten Moment spürte sie im Dunkeln eine leichte
Berührung am Bein. Beinahe hätte sie vor Schreck aufgeschrien. Aber es war nur
ihr kleiner Freund Flecki, der leise maunzend um ihre Beine schlich. Sicher
roch er den Wurstzipfel, den sie für ihn in der Küche entwendet hatte.
Erleichtert streichelte sie den Kater und gab ihm den
Leckerbissen, über den er sich sofort hermachte. Ihre Befürchtung, ihren Freund
in der Dunkelheit vielleicht nicht finden zu können, bestätigte sich zum Glück
nicht. Ohne den Kater wäre sie nicht fort gegangen, denn schließlich hatte sie
ihm versprochen, ihn mitzunehmen.
Nachdem Flecki den Wurstzipfel genüsslich vertilgt hatte,
hob sie ihn auf und steckte ihn kurzerhand ebenfalls in die lederne
Umhängetasche. Die Lasche schloss sie nur so weit, dass er seinen Kopf
herausstrecken konnte.
Die äußere Mauer des Klostergeländes war nicht sehr hoch und
stellte damit kein Hindernis für sie dar. Still dankte Line der Jungfrau Maria und
verschmolz mit der Dunkelheit, als sie im nahen Wald verschwand.
Memmingen lag in östlicher Richtung, etwa einen Tagesmarsch
entfernt, soviel wusste das Mädchen. Aber sie wusste nicht, welchen Weg sie
nehmen musste. Zunächst wollte sie sich möglichst schnell so weit wie möglich
vom Kloster entfernen, denn wahrscheinlich suchte man sie, sobald man ihre
Flucht bemerkte. Deshalb lief sie den gewundenen Pfad entlang, der vom Kloster
aus in den Wald führte.
Hier traf sie auf einen breiteren Weg, der deutliche
Radspuren von Bauernkarren und
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