Das mysteriöse Pergament 02 - Irrwege (German Edition)
sie laufen musste und folgte
einfach ihrer inneren Eingebung. Sie wollte den Ausgang so schnell wie möglich finden,
bevor man sie entdeckte. Leichtfüßig lief sie durch den Gang und erreichte an
seinem Ende eine Wendeltreppe, die in die untere Etage führte. Vorsichtig trat
sie in die leere Vorhalle. Erleichtert sah sie die schwere Eichentür, die auf
den Hof hinaus führte.
Hinter der gegenüberliegenden Tür hörte sie gedämpfte
Stimmen, fröhliches Lachen und andere Geräusche. Dort musste die Halle sein, in
der den Herrschaften und Gästen das Abendmahl aufgetragen wurde. Selbst hier
konnte sie den Duft von Gebratenem wahrnehmen.
Ihr Magen gab einen knurrenden Laut von sich und einen
kurzen Moment überlegte das Mädchen, ob es nicht besser wäre, erst nach dem
Essen zu verschwinden. Aber diesen Gedanken verwarf sie sofort wieder. Sie
wollte Conrad nicht mehr begegnen. Lange schaute sie auf die Tür und nahm stumm
Abschied von ihm, Antonia und Sven.
Jetzt ist Conrad unter Seinesgleichen, dachte sie ohne
Groll. Während der Reise hatten sie ihre kargen Essensrationen und die
unbequemen Lager miteinander geteilt. Doch jetzt war er angekommen.
Sie hingegen musste ihren Weg erst finden. Eine Weile hatte
sie sich dem Trugschluss hingegeben, es könnte derselbe sein wie der des
Mannes, den sie liebte.
Einen Moment schwankte sie. War es nicht undankbar, sich
ohne ein Wort davonzustehlen? Wie gern würde sie ihn noch einmal sehen. Aber
sie wusste, wenn sie jetzt nicht ging, wenn er sie nur noch einmal anschauen würde
mit seinen blauen Augen, dann würde sie niemals mehr die Kraft dazu
aufbringen.
In den Armen seiner Frau, diesem wunderbaren Wesen, vergaß
er sie sicher schnell. Vielleicht war er sogar erleichtert, wenn er sie und
damit seine lästige Pflicht los war, für sie sorgen zu müssen.
Gern hätte Line sich wenigstens von Antonia verabschiedet,
aber sicher würde ihre Freundin versuchen, sie zurückzuhalten. Sie durfte jetzt
keinen Augenblick mehr zögern.
Abrupt drehte sie sich um und rannte auf die Tür zu, riss
sie auf und prallte mit Constances Zofe Anna zusammen, die vor Schreck einen
spitzen Schrei von sich gab.
Line murmelte eine Entschuldigung und schlüpfte an der
jungen Frau vorbei ins Freie, direkt in die Arme von Constance, die sie
ebenfalls beinahe umgelaufen hätte. Sie konnte gerade noch abbremsen und
knickste nur, da sie vor Schreck kein Wort herausbrachte.
Anders als erwartet rümpfte die Edelfrau nicht die Nase über
ihr unmögliches Verhalten. Sie runzelte nicht einmal die Stirn, sondern
schenkte ihr ein warmes Lächeln. „Geht es dir besser, Caroline aus Herbishofen?
Wir haben uns Sorgen gemacht.“
Das brachte Line völlig aus der Fassung. „Es…“, stammelte
sie, „war wohl… die Anstrengung der Reise.“
„Ja“, sagte Constance seufzend, „die Männer nehmen keine
Rücksicht auf uns zarte Geschöpfe, wenn sie ein Ziel vor Augen haben.“
Dabei musterte sie das Mädchen so intensiv, dass es Line
unbehaglich wurde. Dann lächelte Constance wieder, hakte sie einfach unter wie
eine gute Freundin und ging mit ihr wieder hinein. „Mal sehen, ob die
Mannsbilder uns noch etwas zu Essen übrig gelassen haben“, sagte sie
aufgeräumt.
„Ich… äh“, wandte Line verzweifelt ein, „wollte nur noch
einmal frische Luft schnappen. Ich komme nach.“
„Ja, das wird dir sicher gut tun“, lenkte Constance ein.
„Anna wird dich begleiten.“
Die Zofe schaute nicht gerade glücklich drein, fügte sich
aber wortlos. Sie war jung und drall. Mit ihrem üppigen Busen und dem breiten
Becken sah sie sehr weiblich aus und hatte bestimmt einige Verehrer.
Line überlegte krampfhaft, wie sie sich der Zofe entledigen
konnte, die ihr wie ein Dackel folgte. Zudem erwies diese sich auch noch als
besonders schwatzhaft. „Ist es wahr, dass du mit den beiden Rittern wochenlang
auf Reisen warst und Antonia erst später zu euch gestoßen ist?“
Line nickte.
„Dann warst du ganz allein mit den beiden Männern?“, fragte die
Zofe neugierig.
„Ja“, bestätigte Line.
„Habt ihr immer ein Quartier gefunden, oder musstet ihr auch
manchmal im Freien übernachten?“, bohrte Anna nach.
„Ja, meistens sogar.“
„Huh, das muss aber ziemlich kalt gewesen sein“, Anna ließ
nicht locker.
„Wir haben uns gegenseitig gewärmt“, entgegnete Line prompt.
Im selben Moment bereute sie die unbedachte Äußerung.
Anna zog scharf die Luft ein und ihre neugierigen Augen
wurden
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