Das Mysterium der Zeit
Stille trat ein, die vier Matrosen blickten einander an, wahrscheinlich überrascht, diesen Namen von trauriger Berühmtheit zu vernehmen.
»Wir haben schwere Verluste erlitten«, ergänzte unser Herold, »die Mannschaft zu Sklaven gemacht, die Waren geplündert, das Schiff versenkt. Wir sind Schiffbrüchige. Wir flehen euch um Hilfe an, um unseres Herrgotts willen!«
»Wir Musiker werden mit allergrößter Dringlichkeit von Seiner Eminenz Kardinal Mazarin persönlich am französischen Königshof erwartet!«, fügte Malagigi wohlbedacht hinzu.
Die vier Matrosen berieten sich untereinander, dann ergriffen sie die Ruder und kamen auf uns zu.
»Gott sei’s gelobt!«, hörte ich Pasqualini aufseufzen.
Sie waren nicht mehr als zehn Schritt von uns entfernt, wir konnten ihnen nunmehr ins Gesicht sehen: Der Anführer, der mit Kemal verhandelt hatte, war ein untersetzter Mann mittleren Alters, das von einem weißen Bärtchen umrahmte Gesicht sonnenverbrannt. Die anderen waren junge Kerle zwischen zwanzig und fünfundzwanzig. Während sie ruderten, betrachteten sie uns neugierig und wachsam zugleich.
»Wo sind die anderen?«, fragte der Anführer. »Wir müssen mindestens zwei Fahrten machen, um euch alle aufzunehmen, und dann braucht es ziemlich viel Zeit, um …«
»Himmel, Signor Secretarius, Ihr sagtet doch, es geht Euch besser …«, rief Kemal mit einem entsetzten Blick auf mich aus.
Prompt richteten sich die Augen des Weißbärtigen und der anderen auf meine Wenigkeit.
Ich erbrach mich, hilflos an einen Felsen geklammert.
»Gleich ist es heraus … nur einen Augenblick noch«, sagte ich keuchend, während ich reichlich Magensäfte ausspie, doch nichts von dem am gestrigen Abend gegessenen Fleisch. Die grünliche Lache zu meinen Füßen verhieß nichts Gutes.
»Quarantäne! Quarantäne!« Nur dieses eine Wort warf der untersetzte Mann mit dem weißen Bart uns vom Boot aus zu.
Die Gesetze der Seefahrt sind eisern: Ohne ein Gesundheitszeugnis galten wir angesichts eines so offenkundigen Unwohlseins alle als ansteckend. Überdies gab es keine Garantie, dass Kemals Worte der Wahrheit entsprachen. Wenn er nun gelogen hatte, um zu verheimlichen, dass der wahre Grund unseres Aufenthalts auf Gorgona eine |313| Seuche war? Als ich mich aufrichtete, sah ich Pasqualini und Naudé, die mich mit kaum verhohlenem Zorn musterten. Dann brach ich wieder zusammen und hoffte, endlich meine Eingeweide zu leeren.
»Verseuchte! Ihr seid verseucht!«, wurde vom Boot aus gerufen. »Wir müssen alle toskanischen Häfen warnen, dass euch vierzig Tage lang keine Mannschaft an Bord nehmen darf!«
»Was? Vierzig Tage lang?«, schrien du und Malagigi. Ihr blicktet euch an, beide einer Ohnmacht nahe.
»Seine Eminenz Kardinal Mazarin erwartet uns dringend in Paris!«, protestiertest du aus vollem Halse.
Vergebens: das Boot wendete, um zur Schebecke zurückzurudern. Der Bärtige blickte hinter sich, betrachtete uns nachdenklich. Dann gab er ein Zeichen, innezuhalten.
»Wir sind Christenmenschen und haben Mitleid mit euch«, rief er, »aber die Gefahr, die von euch ausgeht, ist zu groß. Eure Krankheit könnte sich im Hafen von Livorno ausbreiten, was bedeuten würde, in kürzester Zeit den halben Erdkreis anzustecken.«
»Ein Seemann mit Verantwortungsgefühl und Gewissen, das muss man zugeben. Ein wahrer Christ.« Kemals Bemerkung überraschte, hatte man doch bisher noch keine frommen, für die Idee der Nächstenliebe empfänglichen Gedanken von ihm vernommen.
»Von wegen wahrer Christ!«, knurrtest du. Unerwartet kam deine Frage an das bärtige Männchen: »Wie viel willst du?«
»Toskanische, päpstliche oder französische Münzen sind willkommen. Natürlich auch Gold oder Perlen!«, lachte dieser. »Keine Wechselbriefe oder Münzen aus den Barbareskenreichen!«
Deine unverblümte Frage verwirrte uns. Trotz deiner Jugend wusstest du besser als wir, dass alles auf der Welt seinen Preis hat. Ein Stich fuhr mir durchs Herz und ließ mich das Magenleiden vergessen. Deine Eingebung stammte aus dem Missbrauch durch die Medici und ihre unflätigen Kumpane, den du seit deiner Kindheit hattest erleiden müssen, und aus der Erfahrung, von deinem eigenen Vater verraten worden zu sein.
»Habt ihr noch etwas bei euch?«, fragte Kemal halblaut.
Alle schüttelten wir traurig den Kopf.
»Du weißt ganz genau, Schurke, dass dein Anführer, dieser Renegat, uns alles genommen hat!«, murrte Hardouin einmal weniger sanftmütig als sonst.
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