Das Mysterium der Zeit
Lykurg weit in den Schatten. Hier standen alle großen Namen unter Anklage: von Cicero bis zu Titus Livius, Seneca, Pausanias, Plinius und viele andere mehr. Wenn es in ihren Werken so viele Lügen gab, Gotteslästerungen, wie der geheimnisvolle Orestes sie nannte, warum sollte man ihnen den Rest weiterhin glauben? Von der gesamten Geschichte und Literatur des griechischen und römischen Altertums blieb ohnehin kein einziger Stein mehr auf dem anderen, den man nicht mit einem Hauch hätte umwerfen können. Ich vermutete, dies war der Grund für die finstere Miene, den der alte Pariser Philologe an den Tag legte. Aber ich irrte mich, wenigstens zum Teil.
»Ich würde zu gerne wissen, wer dieser Orestes ist, der sogar auf Altgriechisch |306| unterschreibt«, versetzte Schoppe, als die beiden ihre Lektüre beendet hatten. »Unser guter Gabriel Naudé weiß es auch nicht.«
Ich bemerkte, dass der alte Deutsche es vermied, den Inhalt des Dokuments zu kommentieren oder zu kritisieren. Es war zu heikel für einen Philologen, der sein ganzes Leben dem Studium von Werken gewidmet hatte, die jenem Orestes zufolge wahrscheinlich nicht mehr als ein Zeitvertreib von Spaßvögeln waren.
»Merkwürdig, dass Naudé nicht weiß, wer Orestes ist«, sagte Guyetus mit einem undefinierbaren Unterton. »Er kennt ihn nämlich sehr gut.«
»Ihr wisst, wer er ist?«, fragten wir einstimmig und erstaunt zusammenzuckend.
»Natürlich weiß ich das. Es ist Jean-Jacques Bouchard.«
DISKURS XLIII
Darin erneut der Name des Jean-Jacques Bouchard auftaucht, welcher vor fünf Jahren in Rom ermordet wurde.
Wie eine gläserne Konkretion des Eises, die noch vor dem Morgengrauen klingend ertönt, hallte nun dieser Name erneut zwischen uns wieder.
Jean-Jacques Bouchard, ein Freund von Gabriel Naudé, ein junger Philologe, der zum Kreis der Starken Geister gehörte, war vor fünf Jahren in Rom ermordet worden. Ich hatte gehört, wie Caspar Schoppe auf seine skandalösen Beziehungen zu Mazarins Bibliothekar anspielte.
»Das Pseudonym Orestes und auch die Schreibweise des Namens in Altgriechisch ist typisch für Bouchard«, erklärte Guyetus, während Schoppe schon vor Wut schäumte. »In unseren Philologenkreisen hat man das erst nach seinem Tod erfahren. Auch Bouchard war Philologe und sogar ingeniös, das muss ich zugeben, vor allem jetzt, da ich diesen Text mit eigenen Augen lesen konnte«, gestand Guyetus ehrlich.
»Und dieser Verräter Naudé, dieser Betrüger«, fuhr Schoppe zornig auf, »der sagt, er habe keine Ahnung, wer Orestes sei!«
»Vielleicht weiß er es wirklich nicht«, bemerkte Hardouin. »Naudé ist kein Philologe.«
|307| »Er kann nicht mal Griechisch, und Latein zitiert er so, wie wir alle es gehört haben …«, schloss Guyetus mit einem vielsagenden Lächeln.
»Meine Lieben, unser Gabriel kannte Bouchard wie seine Westentasche! Und wer weiß, was er noch alles von dieser Sache weiß und uns nicht verrät!«, kreischte der alte Deutsche. »Ich habe es ja gesagt, dass er sich die Hände mit unaussprechlichen Dingen schmutzig gemacht hat! Da hat sich Mazarin wahrlich in gute Hände begeben, oh ja, in ganz ausgezeichnete Hände!«
»Bist du nicht etwas voreilig, Caspar?«, bremste ihn Guyetus.
»Während ich, Caspar Schoppe, die Mächtigen und Irrgläubigen mit meinen Schriften herausgefordert und den wahren Glauben verteidigt habe, standen Naudé und Bouchard im Dienst der Kardinäle der heiligen römischen Kirche und waren gern gesehene Gäste in den Palästen der Patrizierfamilien, die dem Papst am nächsten stehen. Kurzum, sie lebten glücklich und zufrieden im Schatten eben jenes Papsttums, das sie hinterrücks im Namen ihres atheistischen Credos verleumdeten. Niemand durchschaute ihr Spielchen, doch nach Bouchards Tod kamen diese abscheulichen Tagebücher ans Licht …«
»Seht mal!«, rief Hardouin in diesem Moment aus. Er zeigte auf eine dünner werdende Rauchsäule am Himmel. Das Haus des Mädchens schien mitsamt seiner Bewohnerin nun vollkommen verbrannt zu sein. Wir bekreuzigten uns, mit Ausnahme von Guyetus natürlich.
In diesem Augenblick sahen wir Barbello und dich näher kommen. Noch wusste ich nicht, wie ich dieses Weib mit dem Lockenschopf und den üppigen Brüsten anders nennen sollte. Ihr Anblick löste Bestürzung und Dankbarkeit zugleich in mir aus, verstohlen warf ich dir einen schuldbewussten Blick zu. Keuchend und mit den Armen fuchtelnd kamt ihr an. Barbello rief:
»Kommt schnell, seht euch das
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