Das Mysterium der Zeit
gut und spricht Italienisch.
Denn in seiner Jugend hat er die erhabene Universität Padua besucht, wo seit langer Zeit höchst gerissene Denker in Mode sind, die mit dem Atheismus liebäugeln: Pietro d’Abano, Pomponazzi, Zabarella und Agostino Nifo. Die Universität wird von der Republik Venedig bezahlt, die viele offene Rechnungen mit der römischen Kirche hat und aufrührerische Ideen nach Kräften fördert.
In Padua war der junge Naudé Schüler des berühmten Cesare Cremonini, des bestbezahlten Philosophen von Italien. Vor einer unüberschaubaren Menge an Zuhörern erklärt Cremonini die Lehre des Aristoteles und seines barbarischen Kommentatoren Averroes über das Wesen der Welt, des Menschen und Gottes. Doch er wird verdächtigt, bei seinen Vorlesungen die Unsterblichkeit der Seele zu leugnen, weil er Aristoteles Zweideutigkeit bei diesem so heiklen Thema ausnutzt und sich auf die Deutung des Averroes stützt. Cremonini unternimmt nichts, um die böse Nachrede zu leugnen oder zu bestätigen. Nachdem er mehrmals von anonymen Denunzianten beschuldigt wird, macht die Inquisition ihm den Prozess, aber aus mysteriösen Gründen kommt er jedes Mal mit heiler Haut davon. Und jedes Mal überhäuft die Republik Venedig ihn mit Gold, indem sie sein Salär verzehnfacht, während der Lehrstuhl für Moralphilosophie, der Gottesfurcht lehren sollte, so schlecht besoldet ist, dass sich seit geraumer Zeit keine Dozenten mehr finden, die dieses Amt übernehmen wollen, und der Unterricht von einfachen Studenten besorgt werden muss. Das Jahresgehalt von fünfzehn Fiorini wurde seit anderthalb Jahrhunderten nicht erhöht, während andere Dozenten tausendfünfhundert Fiorini und Cremonini über viertausend bekommen. Überdies erhalten die Dozenten für Moralphilosophie nur einen Jahresvertrag, während die anderen Professoren auf Lebenszeit angestellt werden. Und alle wissen, wie unzufrieden die promovierten Studenten sind, wenn sie die Universität verlassen und die fehlende Moral in der universitären Lehre mit dem großen Bedürfnis nach Spiritualität im bürgerlichen, politischen, persönlichen und familiären Leben vergleichen, das zu befriedigen sie aufgerufen sind.
»Nur damit ihr versteht, welch eine gottlose Kaste in Venedig regiert«, erläuterte Schoppe freimütig, da er selbst ja nach langen Jahren der Flucht ausgerechnet in der venezianischen Republik Rettung |329| vor all denen gefunden hatte, die sich für seine giftige Zunge rächen wollten.
Aus Padua schreibt der junge Naudé in seine Heimat: Italien ist ein Land von Ungläubigen und Ketzern, hier glaubt niemand an irgendetwas. Als er an einem schönen ersten Maitag in Rom ankommt, steht Naudé noch unter dem Eindruck der freizügigen, heiteren Atmosphäre seiner Monate in Padua. Bouchard ist schon seit Februar in der heiligen Stadt. Noch kennen die beiden sich kaum, in Paris haben sie sich manchmal bei den Treffen im Haus der Gebrüder Du Puy gesehen.
Es ist normal, dass ihr Kontakt sich in einer fremden Stadt vertieft, sie haben dieselben Freunde und Beschützer. Der große Gelehrte Peiresc, ein geradezu asketischer Philologe (er hasst Frauen), den einige Freie Geister Meister aller Meister nennen, hatte Bouchard, bevor dieser sich nach Rom aufmachte, ein paar Regeln diktiert, damit er sich nicht in Schwierigkeiten brachte: Niemals von Gott oder dem Papst sprechen, weder im Guten noch im Bösen; lange Gewänder tragen, um einen ehrbaren Eindruck zu machen; Verschwendung und Gelage meiden; mit den Franzosen so wenig Umgang wie möglich pflegen und nie Streit mit Italienern anfangen, weder um das Glücksspiel noch um Frauen; Italiener immer ehrerbietig und achtungsvoll behandeln. Und vor allem Vorsicht, Vorsicht, Vorsicht.
Und so erlernen Naudé und Bouchard in Rom die erhabene Kunst, die Peiresc predigte. Maßvolle Reden und vorsichtige Gesten; wenige, diskrete Vertraulichkeiten; weitgehende Unterwerfung unter die lokalen Gepflogenheiten; gelegentliche Grillen, aber zurückhaltend und kontrolliert.
In der Stadt des Papstes findet Bouchard neue, mächtige Beschützer: die Kardinäle Francesco und Antonio Barberini (Ersterer ein Asket, Letzterer etwas weniger), Neffen des Papstes, die ihn in die Reihen ihrer Secretari aufgenommen haben und jeden Eid auf Bouchards Talente schwören würden. Die Barberini schreiben sogar nach Frankreich an den Regierenden Minister Richelieu, um ihm das mitzuteilen. Sie vertrauen ihm die Übersetzung griechischer Autoren an,
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